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DAS 5. OPFER

DAS 5. OPFER

Titel: DAS 5. OPFER Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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Kopf. »Nein«, gab sie zu. »Was?«
    »Dass sie nie eine Ahnung davon gehabt hat, welche Macht sie über andere Menschen ausübt. Diese einzigartige Fähigkeit, zu zerbrechen und zu vernichten.«
    »Ich bin mir nicht sicher, was du meinst.«
    Da war wieder dieses Grinsen eines hungrigen Tieres. »Oh, ich denke, das tust du.«
    Sie waren auf die Flughafenstraße eingebogen und kamen am Silver Spoon Diner vorbei, dem früheren Arbeitgeber der verstorbenen Candace Jacques. Reggie starrte auf das Art-Deco-Gebäude, sah die Spiegelung von Georges weißem Lieferwagen auf der Seite des polierten, silbernen Diners.
    »Denk nur daran, was sie dir angetan hat«, sagte George.
    Reggie zuckte zusammen. »Sie hat das Beste getan, das sie konnte.«
    »Ein Hund wäre dir eine bessere Mutter gewesen als Vera«, sagte er. Die Ader an der Seite seines Kopfes trat noch mehr hervor. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Jetzt spuckte er die Worte geradezu aus. »Dich im Stich zu lassen, um mit ihren Freunden trinken zu gehen. War immer zu einer Nummer aufgelegt, wenn das ein paar Gratisdrinks und ab und zu ein Abendessen einbrachte.«
    »Ich denke nicht …«
    »Und dann«, unterbrach sie George, »verließen sie sie immer an Ende. Sie erkannten dann, was sie war, und wussten, dass sie es besser treffen konnten.«
    Sie passierten das Reuben’s, das ein großes »Zu Verkaufen«-Schild davor stehen hatte. Die Fenster waren mit Brettern zugenagelt, und der Parkplatz war leer. Reggie erinnerte sich daran, wie Sid auf dem Asphalt in einer Blutlache gelegen hatte, hörte Taras Stimme, Lauft! Sie erreichten eine gelbe Ampel, und Reggie fummelte so verstohlen sie konnte am Schloss herum. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie ein winziges Klicken hörte. George überfuhr die gelbe Ampel. Sie kamen am Flughafen vorbei und fuhren hinaus in das Niemandsland von Lagerhäusern, verlassenen Fabriken und Stunden-Motels. Das »Effizienz am Flughafen«-Motel lag zu ihrer Linken und war immer noch in Schweinchenrosa gestrichen.
    »Entscheidungen«, sagte George. »Das ist es, worauf es im Leben hinausläuft, nicht wahr? Die Entscheidungen, die wir treffen. Wir haben jeder die Kontrolle über unser eigenes Schicksal, Reggie, ob wir es nun erkennen oder nicht.«
    »Da stimme ich dir zu«, sagte Reggie und blickte sich verzweifelt um, als die Gebäude in immer größeren Abständen kamen. Sie überquerten Eisenbahnschienen. Leere Grundstücke, zugewachsen mit kniehohem Dickicht aus Gestrüpp und totem Gras.
    »Du magst denken, dass Vera hier das Opfer war, aber die Wahrheit ist, dass sie dorthin gelangt ist, wo sie ist, durch die Entscheidungen, die sie auf dem Weg getroffen hat. Eine falsche Entscheidung nach der anderen. Wenn es so einfach gewesen wäre, aufzuhören, einen anderen Weg zu wählen. Ein anständiges Leben. Das habe ich ihr angeboten. Und sie hat mich abgewiesen, immer wieder. Mich verspottet.«
    Er verzog das Gesicht, leckte seine Lippen. Der Lieferwagen wurde langsamer, als sie sich einer Straßenkurve näherten. Reggie zerrte am Türgriff, betete, dass er sich öffnen ließ. Die Tür schwang auf und sie sprang, schlug auf dem Pflaster auf, rollte wie ein Sack Kartoffeln, ihre Ellbogen und Hüften rutschten über den Asphalt. Sie hörte das Quietschen von Bremsen und richtete, ohne zurückzublicken, ihren Körper auf und fing an zu rennen. Wenn sie nur in das zugewachsene Dickicht gelangen konnte, würde sie eine Chance haben. Sie war eine gute Läuferin, daran gewöhnt, weite Strecken zu laufen. George war gute zwanzig Jahre älter. Wenn sie nur gleich zu Anfang genug Entfernung zwischen sie beide bringen konnte, würde sie okay sein.
    Sie lag schon mit dem Gesicht auf dem Boden, bevor ihr überhaupt klar gewesen war, dass er in der Nähe war. Sie lag eine Sekunde lang benommen da, fühlte, wie sich Georges Gewicht auf ihr verlagerte. Sie bäumte sich auf, versuchte ihn abzuwerfen, aber er hielt sich. Sie hatte seine Kraft unterschätzt. Er drehte sie auf den Rücken. Sie trat nach seiner Leistengegend, traf aber nicht.
    »Es hätte nicht so sein müssen«, sagte er, hob sie an den Schultern hoch und warf sie dann auf den Boden. Der Himmel hinter ihm verdüsterte sich, die ganze Welt verdunkelte sich, verwandelte sich in einen engen Tunnel, und alles, was sie sehen konnte, war sein Gesicht, dort am Ende des Tunnels, das auf sie herabgrinste wie ein böser Mond. Dann war auch er verschwunden.

42 24. Juni 1985 – Brighton Falls,

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