DAS 5. OPFER
Hochtouren.
Reggie fuhr mit zitternden Fingern über den Dreizack, Gedanken explodierten in ihrem Kopf, eine Botschaft übertönte sie alle laut und deutlich: Lauf! Nichts wie weg von hier, sofort!
»Bist du bereit?«
Reggie fuhr hoch. George stand direkt hinter ihr im Türrahmen, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Sein Blick fiel auf den Schwan in ihrer Hand, und sein Lächeln schien sich nur ein ganz klein wenig zu verändern.
»Sicher!«, sagte Reggie, allzu munter. Verdammt, sie musste sich zusammennehmen. »Erinnerst du dich daran?«, fragte sie, drehte den Schwan um und hielt ihn hoch, weil sie keinen Argwohn erregen wollte. »Ich glaube, den hast du mal Mom geschenkt. Ich habe ihn in einem Schrank in Moniques Wunsch gefunden. Er ist wirklich wunderschön.« Sie versuchte, ihre Stimme so fest klingen zu lassen, wie sie konnte, und ließ den Schwan wieder in ihre Tasche fallen.
George nickte, mit den Augen auf der Tasche. »Wir werden den Lieferwagen nehmen«, sagte er ruhig.
»Ich kann fahren«, bot Reggie an, versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme zu halten.
George zog die Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete die Vordertür.
»O nein«, sagte er. »Ich bestehe darauf.«
TEIL DREI
Auszug aus Neptuns Hände:
Die wahre Geschichte der ungelösten Morde von Brighton Falls
Von Martha S. Paquette
Ich denke, dass wir, in so vielerlei Hinsicht, vor den Morden in einem Zeitalter der Unschuld gelebt haben«, sagt Hochwürden Higgins von der Ersten Kongregationalistischen Kirche. »Wir dachten, dass hier nichts Schlimmes passieren könnte. Neptun hat uns etwas genommen, was über die Leben dieser armen Frauen hinausgeht. Er hat uns unser Gefühl von Sicherheit genommen und uns das wahre Gesicht des Bösen gezeigt. Es ist schwer vorstellbar, dass wir zu dem Zustand zurückkehren können, in dem sich die Dinge vorher befanden. Ich glaube nicht, dass Brighton Falls, oder auch nur einer seiner Einwohner, jemals wieder so werden wird, wie es früher war.«
41 23. Oktober 2010 – Brighton Falls, Connecticut
GEORGE PFIFF, WÄHREND ER fuhr, mit beiden Händen sicher das Lenkrad seines Lieferwagens umfassend. Reggie betrachtete seine Hände; sie waren klein, beinahe zierlich, mit akkurat geschnittenen Nägeln. Sie sahen glatt aus, beinahe haarlos, und Reggie war sicher, dass sie sich weich anfühlen würden. Sie hatte sich Neptuns Hände immer größer, rauer vorgestellt. Dies waren die Hände eines Künstlers, eines Chirurgen, und die Tatsache, dass sie so harmlos aussahen, verstörte sie.
Ihr Kopf drehte sich immer noch von dem Schock – George, der Mann, der ihr mit Algebra geholfen, ihr das Fahrradfahren beigebracht hatte, der sanftmütige kleine George, mit seinem Onkel-Maus-Gesicht – er war Neptun. Es schien einfach nicht möglich zu sein.
Reggie zwang sich, die Worte immer wieder in ihrem Geist vor sich hin zu sagen, versuchte sie sich bewusst zu machen:
George ist mein Vater.
George ist Neptun.
Neptun ist mein Vater.
Sie dachte wieder an ihr Horoskop-Chart, den winzigen blauen Dreizack im zwölften Haus, ein Stück von Neptun, versteckt in ihrem Inneren, das ihr Albträume und künstlerische Visionen bescherte. Jetzt begriff sie, dass es so viel mehr war als das: Ihre halbe DNA – die Bausteine, die aus Reggie die Person machten, die sie war – war von ihm gekommen.
Sie betrachtete sein Profil, suchte nach irgendeinem vertrauten Teil von sich selbst. Hatte sie seine Stirn, sein Kinn?
War da, zusätzlich zu ihrer Vorliebe für Pläne und Ordnung, ein kleines Stück von dem, was nötig ist, um ein Mörder zu sein, tief in ihren Zellen vergraben?
Reggie saß auf dem Beifahrersitz, die Tasche zwischen ihren Waden eingeklemmt auf dem Boden. Ihr Magen verkrampfte sich, und sie atmete tief, ging ihren Plan durch. Wenn sie zur Polizeiwache kamen, würde sie mit George das von ihr Erwartete tun, den Cops von Stu Berr erzählen. Dann würde sie eine Gelegenheit abpassen, einen von ihnen alleine zu erwischen, um ihm den Schwan zu zeigen und ihm zu sagen, dass George in Wirklichkeit Neptun war. Sie würde sicher sein, solange sie die gesamte Polizeidirektion von Brighton Falls um sich hatte. Und sie würden ihren Mann haben, einfach so. Sie würden ihn festhalten, ihn befragen, bis er gestand, ihnen sagte, wo Tara war. Es würde funktionieren. Es musste funktionieren.
Sie musste nur sichergehen, dass, falls er, nachdem er sie mit dem Schwan gesehen hatte, einen Verdacht welcher Art auch immer
Weitere Kostenlose Bücher