DAS 5. OPFER
trotzdem erwartete sie halb, Charlies Gesicht im Türrahmen erscheinen zu sehen, der ihr ein Zeichen gab heraufzukommen und sie fragte, wo sie gewesen war.
»Denkst du, dass sie das verdient hatte, ist es das?«, fragte George. Seine Stimme war ruhig, kontrolliert, aber er war offensichtlich wütend. »Denkst du, dass es einen Tag gibt, an dem sie nicht daran denkt, was passiert wäre, wenn sie die Dinge in dieser Nacht anders gemacht hätte?«
»Sieh mal«, begann Reggie. »George, ich …«
»Es ist nicht richtig, sie für das verantwortlich zu machen, was mit deiner Mutter passierte.«
»Das tue ich nicht!«
»Doch, das tust du. Das hast du immer getan. Ist das nicht der Grund, warum du von Zuhause weggegangen bist und niemals auch nur angerufen hast? Du konntest es nicht einmal ertragen, sie auch nur anzusehen. Ich erinnere mich daran, wie es in diesen letzten vier Jahren auf der Highschool gewesen ist. Du hast einfach aufgehört, mit ihr zu sprechen. Du hast ihr das Herz gebrochen, Reggie.«
Reggie schüttelte den Kopf. Das war verrückt. Lorraine hatte Reggie seit dem Tag, an dem sie geboren worden war, aus ihrem Herz verbannt, nur weil sie Veras Tochter war.
George schlenderte über die Einfahrt und in die alte Holz-Garage, Reggie folgte. Lorraines Werkbank für die Fliegenherstellung war noch da, bedeckt mit einer Auswahl von Zangen, Haken, Fäden und Federn. Darunter geschoben war die staubige Kiste mit dem Präparationszubehör: kleine Augen auf Draht, Sägespäne, Messer und Chemikalien. Neben der Bank stand der Angelschrank, den George für Lorraine gebaut hatte. George streichelte über die Vordertür, öffnete sie dann, gab den Blick frei auf vier Angeln, ein Netz und Lorraines abgetragene Fischerweste auf einem Bügel. Er erinnerte Reggie an eine Kiste, in die ein Zauberer eine Frau steigen lassen würde, um sie dann in zwei Hälften zu sägen. Oder vielleicht würde er seinen Zauberstab schwingen, die Tür schließen und sie ganz verschwinden lassen.
»Vera zu verlieren, das war hart genug«, sagte George und schloss den Schrank. »Das hat uns alle zerrissen. Aber dann haben wir dich auch noch verloren.«
Das war verdammt noch mal zu viel.
»Es tut mir leid«, sagte Reggie und stellte sich gerade hin. »Aber ich weigere mich, mich deswegen schuldig zu fühlen. Ich war nur eine Jugendliche, und ich habe das Beste getan, was ich konnte. Lorraine hat mich mein ganzes Leben lang wie Dreck behandelt, weil ich die Tochter meiner Mutter war. Sie hasste Vera, George! Erinnerst du dich nicht daran?«
George nickte. »Sie hatten ihre Meinungsverschiedenheiten, ja, aber …«
»Meinungsverschiedenheiten? Lorraine war immer furchtbar zu ihr«, unterbrach Reggie ihn. »Sie warnte mich immer, mich von Mom fernzuhalten, nachts meine Tür abzuschließen.«
»Sie hat nur versucht, dich zu beschützen!«, blaffte George.
»Ich habe keinen Schutz gebraucht«, zischte Reggie, als die Wut durchkam. »Nicht vor meiner eigenen Mutter.«
Sie wandte sich von ihm ab und sah, wie Lorraines aufgehängte Forelle sie von der Wand aus beobachtete, mit Staub bedeckt und deformiert, die groben schwarzen Stiche auf ihrem Bauch waren sichtbar. Franken-Fisch.
George schwieg einen Moment, biss auf die Innenseite seiner Wange. »Manchmal«, sagte er, »frage ich mich, ob du dich an die Dinge so erinnerst, wie sie wirklich gewesen sind.«
Reggies Kopf dröhnte.
»Dann wärst du vielleicht dankbarer für die Opfer, die deine Tante gebracht hat«, sagte George.
»Ach, verschone mich«, knurrte Reggie und wandte sich von der Forelle ab, um George anzustarren. »Was für Opfer?«
»Hast du irgendeine Ahnung, was es gekostet hat, dich vier Jahre lang auf die Brooker School zu schicken? Und dann war da noch das College. Du bist da, wo du heute bist, durch Lorraine. Sie hat eine ganze Menge aufgegeben für dich.«
»Hat sie dir das erzählt?«, sagte Reggie. »Ja, sie hat für die Brooker bezahlt, aber das war ihre Wahl, und ehrlich gesagt, denke ich, dass sie mich dorthin geschickt hat, weil sie sich so dafür geschämt hat, wie meine Mutter den Namen Dufrane beschmutzt hat. Und sie hat nie einen Cent für das College bezahlt, George. Ich habe mir für Ausbildungsförderungen und Stipendien den Arsch abgearbeitet, habe miese Nebenjobs während der ganzen Schulzeit gemacht und trotzdem beim Abschluss Unmengen von Schulden gehabt, die ich alle allein abbezahlt habe.« Sie fühlte, wie sich ihre Wut hochschraubte und außer
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