DAS 5. OPFER
»Wie konntest du nicht aufpassen? Der Kerl tötet in unserer Stadt Frauen! Eine von ihnen war eine Freundin von Mom. Wusstest du das überhaupt?«
»Nein«, sagte Lorraine und blickte endlich von ihrem Kreuzworträtsel auf. »Das wusste ich nicht.«
»Es war die Kellnerin. Mom hat uns vorgestellt. Sie war eine wirklich nette Person.«
Lorraine schürzte ihre Lippen und nickte. »Da bin ich mir sicher.«
Reggie starrte sie an, und Wut stieg in ihr auf.
»Es war nicht richtig, was du getan hast«, sagte Reggie. »Mom mitten in der Nacht auf diese Weise rauszuwerfen.«
Lorraine stand auf, kippte ihre ruinierten Frühstücksflocken in den Abfluss und schaltete den Müllhäcksler an. Sie stand mit dem Rücken zu Reggie und machte damit deutlich, dass sie zu dem Thema nichts zu sagen hatte.
Reggie sah den kleinen hölzernen Schwan in der Mitte des Tisches, wo er die ganze Nacht gewesen war.
»War letzte Nacht noch jemand anders hier?«, sagte Reggie. »Als du und Mom euch gestritten habt, dachte ich, ich würde noch eine weitere Stimme hören.«
Lorraine machte schmale Augen, schüttelte den Kopf. »Nein. Natürlich nicht.«
Reggie griff nach dem geschnitzten Schwan, steckte ihn in die Tasche ihrer Shorts und marschierte dann aus der Küche.
»Regina«, rief Lorraine ihr nach. »Wenn du heute in die Stadt fährst, sorge dafür, dass du nicht alleine bist. Lass Charlie mit dir gehen.«
Reggie gab ihr keine Rückmeldung, sie ging einfach weiter.
DIE REIFENPANNE PASSIERTE, BEVOR die Flughafenstraße von zweispurig in vierspurig überging. Draußen in den Tabakfeldern. Die Arbeiter waren bereits nach Hause gegangen, und es war niemand in der Nähe außer den vorbeifahrenden Autos. Reggie hatte keinerlei Werkzeug bei sich. Kein Reparaturset mit Flicken und Kleber. George hatte ihr beigebracht, wie man den Reifen eines Fahrrades repariert, und ihr alle Werkzeuge gekauft, die sie brauchte. Doch sie vergaß immer, sie mitzunehmen, wenn sie mit dem Rad fuhr.
Das Vorderlicht, das sie gestern Abend nach dem Essen angebracht hatten, befand sich vorne in der Mitte des Lenkers. George hatte Reggie gerügt, weil sie einen Inbusschlüssel der falschen Größe benutzt hatte – er war zu klein gewesen.
»Du wirst die Innenseite der Schraube abschleifen«, hatte er zu ihr gesagt. »Nimm dir die Zeit, das richtige Werkzeug zu finden.« Sie durchsuchte das kleine Sortiment von Schraubenschlüsseln, bis sie den fand, der perfekt passte, dann schraubte sie die Klammer fest, die das Vorderlicht an seinem Platz hielt.
Reggie wünschte, dass George und sein Werkzeugkasten jetzt hier wären.
»Mist«, nuschelte sie und inspizierte den kaputten Reifen. Sie versteckte ihr Rad mit dem gerissenen Hinterreifen in den Büschen neben einem Entwässerungsgraben und machte sich zu Fuß auf den Weg.
Ein Auto nach dem anderen fuhr an ihr vorbei.
Und was ist, wenn ein Kerl in einem braunen Auto bremst und mir anbietet mitzufahren, fragte sie sich. Sie würde sich eine Ausrede ausdenken, um nicht einsteigen zu müssen. Doch es war sowieso eine akademische Frage, denn niemand bremste ab, geschweige denn hielt an.
Sie sah auf ihre Uhr. Sie hatte fünfzehn Minuten, um hinzukommen. Sie fing an zu rennen.
Dann, als sie gerade anfing, ihren Rhythmus zu finden, sich vorstellte, sie würde halb rennen, halb fliegen, passierte die zweite Katastrophe des Abends.
Sie rannte mit Höchstgeschwindigkeit, sozusagen auf Autopilot, als sie an der Seitenwand einer verblassten roten Scheune zum Tabaktrocknen eine riesige, reklametafelgroße Vergrößerung von Candy Jacques Gesicht sah, mit Ohrringen so groß wie Walfanghaken und schmollenden roten Lippen.
HABEN SIE MICH GESEHEN? – In einen halben Meter hohen Druckbuchstaben.
Reggie verlor irgendwie die Kontrolle über ihre eigenen Füße, und plötzlich war sie aus dem Gleichgewicht, landete hart auf ihrem rechten Fußgewölbe. Ihr Fußgelenk knickte um, und sie ging mit einer Rolle wie aus einem Comic-Heft und rudernden Gliedern zu Boden. KRACH-BUMM!
Sie landete so, dass sie, als sie ihre Augen aufschlug, als erstes Candys gewaltiges Gesicht sah, das auf sie herabstarrte.
»Mist!«, stöhnte Reggie und rollte von ihr weg.
Ihr Fußgelenk schrie vor Schmerz. Es begann sofort anzuschwellen, und bis sie sich vom Boden aufgerappelt hatte und gut einen halben Kilometer bis zu der Stelle gehoppelt war, wo die Straße von zwei- zu vierspurig wechselte, begann sie sich zu fragen, ob es vielleicht gebrochen
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