DAS 5. OPFER
Augenblick, daran, die Worte zu sagen, mit denen eines ihrer alten Spiele beginnen würde:
Du hast eine Minute Zeit …
Stattdessen benahm sie sich wie eine Erwachsene, drehte sich um und ging weg.
Auszug aus Neptuns Hände:
Die wahre Geschichte der ungelösten Morde von Brighton Falls
Von Martha S. Paquette
Die Leiche des dritten Opfers, Ann Stickney, wurde am 19. Juni im Morgengrauen gefunden. Sie befand sich auf der Grünfläche in der Stadtmitte, unter dem Ablegerder Charter Oak. Sie lag zusammengerollt auf der Seite, sah aus wie jemand, der gerade eingeschlafen war. Wie Neptuns vorherige Opfer war Stickney nackt und frisch gebadet, ein sauberer Verband war um den Stumpf gelegt, wo ihre rechte Hand gewesen war. Dieses Mal hinterließ der Mörder ein Zeichen – einen Dreizack, der in ihren Bauch eingeritzt war, augenscheinlich, um seine Vorliebe für den Namen zu bestätigen, den die Polizei ihm gegeben hatte.
Das Mädchen war einundzwanzig Jahre alt, eine Filmstudentin von der Wesleyan University in Middletown, fünfundvierzig Minuten südlich von Brighton Falls. Ihre Mitbewohnerin hatte angenommen, sie wäre die Woche über nach Hause nach New Jersey gefahren, und hatte sie nicht als vermisst gemeldet.
Nach der Entdeckung von Stickneys Leiche brach ein wahnsinniger Tumult über Brighton Falls herein.
Frauen wurden gewarnt, auf der Hut zu sein und nicht alleine zu ihrem Wagen zu gehen. Geschäfte begannen, Tränengas zu verkaufen, und eine Frauengruppe verteilte hellorange Pfeifen. Bürger bildeten Trupps, um in der Nachbarschaft zu patrouillieren. Parsons Eisenwaren machte ein florierendes Geschäft mit Sicherungsbolzen und neuen Schlössern. Buds Pistolenladen draußen an der Flughafenstraße verkaufte zweimal so viele Handwaffen in einer Woche, wie sie gewöhnlich in einem Jahr verkauften.
Der Polizeichef Vern Samson kündigte an, dass nun, da klar war, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hatten, das FBI zur Unterstützung hinzugezogen worden war. »Wir sind hoffnungsvoll, dass ihre Kompetenz helfen wird, eine schnelle Lösung für die Situation zu finden, und uns dabei unterstützen wird, den Mörder, der unter dem Namen Neptun bekannt ist, zu ergreifen.« Samson setzte außerdem eine spezielle Arbeitsgruppe ein, die untersuchen sollte, wie so viele vertrauliche Informationen an die Presse gelangen konnten.
Der Hartford Examiner fing an, Leserbriefe von Bürgern abzudrucken, die das Gefühl hatten, dass die Polizei die Untersuchung vermasselte. Die Leute forderten, dass Vern Samson zurücktreten sollte. Eine beliebte Theorie in der Stadt war die, dass Neptun gar ein Mitglied der Polizeitruppe sein könnte. Das würde erklären, wie er die Päckchen auf die Stufen der Polizeiwache legen konnte, ohne dass jemand es bemerkte, wie Informationen über den Fall durchgesickert waren, und vielleicht sogar, wie er seine Opfer fing.
Denn wer würde schließlich einem Polizeibeamten nicht trauen?
18 19. Juni 1985– Brighton Falls, Connecticut
REGGIE WACHTE UM ZEHN AUF, steif und kalt, zusammengerollt auf dem Boden ihres Schlafzimmers. Sie erinnerte sich daran, wie Lorraines Schatten ihren Türrahmen ausgefüllt hatte, während sie brüllte: »Ich will, dass du dieses Haus verlässt!« Reggie ging nach unten, versuchte die Erinnerung abzuschütteln und fand Lorraine vor einer Schüssel durchweichter Cornflakes.
Sie wollte ihre Tante anschreien, wollte ihr sagen: Wie konntest du sie rauswerfen? Was gibt dir das Recht dazu? Doch sie stand einfach sprachlos da, befürchtete halb, dass Lorraine sich entschließen könnte, sie auch rauszuwerfen. Und anders als Vera hatte sie wirklich keinen anderen Ort, wo sie hingehen konnte.
Die Zeitung von gestern lag vor Lorraine ausgebreitet, und sie studierte das Kreuzworträtsel, mit dem Stift in der Hand. Das Radio lief leise im Hintergrund, ein Gemurmel von Stimmen. Reggie hörte die Worte: Leiche, Charter Oak, Neptun.
»Haben sie sie gefunden?«, fragte Reggie, als sie sich ein Glas Orangensaft eingoss.
»Wen?« Lorraine biss leicht auf den Radiergummi des Stiftes, während sie über das Kreuzworträtsel nachdachte.
»Neptuns nächstes Opfer. Es ist der fünfte Morgen.«
»Ja«, sagte Lorraine, ohne von der Zeitung aufzusehen.
»Und, wer ist es? Wo haben sie sie gefunden?«
»Ich weiß es nicht wirklich«, sagte Lorraine. »Ich habe nicht aufgepasst.« Sie trug eines der Worte in das Rätsel ein: Dankbarkeit.
Reggie knallte ihr Saftglas auf den Tisch.
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