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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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dankte ihr für die Einladung, antwortete aber, große Menschenmengen hätten ihn schon immer eingeschüchtert. Sie sagte ihm, er solle nicht albern sein; ihr Freundeskreis würde sich freuen, ihn kennenzulernen, und sie, ihn vorzeigen zu können, aber er antwortete, er würde nur erscheinen, wenn seinem Ego danach war, und er hoffte, sie würde nicht böse sein, wenn er nicht kam. Sie beschwichtigte seine Ängste. Bevor die Unterhaltung zu Ende war, erwähnte sie noch listig, daß sie bei ihrer nächsten Begegnung eine Geschichte zu erzählen hätte.
    Der nächste Tag brachte unglückliche Nachrichten. Bernice war in den frühen Morgenstunden des Freitags gestorben, ohne noch einmal das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Die Todesursache war noch ungeklärt, aber der Büroklatsch wußte, daß sie nie eine kräftige Frau gewesen war – stets die erste Sekretärin, die sich eine Erkältung holte, und die letzte, die sie wieder los wurde. Man sprach auch, zwar weniger laut, von ihrem persönlichen Verhalten. Sie hatte ihre Gunst großzügig verschenkt, so schien es, und Pech mit der Wahl ihrer Partner gehabt. Und da Geschlechtskrankheiten das Ausmaß von Epidemien angenommen hatten, war das nicht die wahrscheinlichste Erklärung für ihren Tod?
    Die Neuigkeit hielt zwar die Klatschbasen auf Trab, wirkte sich aber nicht gut auf die Moral aus. Zwei Mädchen wurde an diesem Morgen übel, und beim Mittagessen sah es so aus, als wäre Elaine das einzige Mitglied des Personals mit einem gesegneten Appetit. Sie allein machte jedoch das Unvermögen ihrer Kollegen wett. Sie hatte einen Heißhunger in sich, ihr Körper schien beinahe schmerzlich nach Nahrung zu verlangen. Nach den langen Monaten der Appetitlosigkeit war das ein gutes Gefühl. Als sie sich umsah und die abgehärmten Gesichter am Tisch erblickte, fühlte sie sich vollkommen von ihnen abgesondert: von ihrem Getue und ihren trivialen Meinungen, von der Art, wie ihre Gespräche immer wieder um den Tod von Bernice kreisten, als hätten sie seit Jahren keinen einzigen Augenblick mehr über das plötzliche Sterben nachgedacht und waren nun verblüfft, daß es durch ihr Schweigen nicht ausgerottet war.
    Elaine wußte es besser. Sie war so oft in jüngster Vergangenheit mit dem Tod in Berührung gekommen: in den Monaten vor ihrer Hysterektomie, in denen die Tumore plötzlich zu doppelter Größe angewachsen waren, als hätten sie gespürt, daß eine Verschwörung gegen sie im Gange war; auf dem Operationstisch, als die Ärzte zweimal dachten, sie hätten sie verloren; und zuletzt in der Krypta, von Angesicht zu Angesicht mit den glotzenden Leichen. Der Tod war überall. Die Verblüffung ihrer Kollegen darüber, daß er in ihren freudlosen kleinen, Kreis gekommen war, mutete Elaine fast komisch an. Sie aß herzhaft und überließ die anderen ihren Flüstergesprächen.
    Zu Elaines Party kamen sie in Reubens Haus zusammen – Elaine, Hermione, Sam und Nellwyn, Josh und Sonja. Es war ein schöner Abend, eine Gelegenheit, sich darüber zu informieren, wie es gemeinsamen Freunden erging, wie sich Status und Ambitionen veränderten. Alle wurden sehr schnell betrunken.
    Zungen, die durch die Vertrautheit schon locker waren, wurden noch weiter gelockert. Nellwyn sprach unter Tränen einen Toast auf Elaine aus, Josh und Sonja hatten einen kurzen, aber erbitterten Wortwechsel über die Evangeliumsgläubigkeit, Reuben brachte seine Nachahmung von Rechtsanwaltskollegen. Es war wie in alten Zeiten; nur mußte die Erinnerung es noch aufwerten. Kavanagh schaute nicht vorbei, und Elaine war froh darüber. Trotz ihrer Einwände, als sie mit ihm gesprochen hatte, war ihr klar, daß er sich in dieser verschworenen Gemeinschaft fehl am Platz gefühlt hätte.
    Eine halbe Stunde nach Mitternacht, als ein paar leise Unterhaltungen das Zimmer beherrschten, erwähnte Hermione den Yachtkapitän. Obwohl sie fast am anderen Ende des Zimmers saß, hörte Elaine deutlich, wie der Name des Seemanns erwähnt wurde. Sie unterbrach ihre Unterhaltung mit Nellwyn und bahnte sich zwischen ausgestreckten Gliedmaßen hindurch einen Weg zu Hermione und Sam.
    »Ich habe gehört, daß ihr euch über Maybury unterhaltet«, sagte sie.
    »Ja«, erwiderte Hermione, »Sam und ich haben gerade gesagt, wie seltsam alles war…«
    »Ich habe ihn in den Nachrichten gesehen«, sagte Elaine.
    »Traurige Geschichte, nicht?« bemerkte Sam. »Wie alles gekommen ist.«
    »Warum traurig?«
    »Wie er sagte, daß der Tod bei ihm

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