Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
auf dem Schiff war…«
    »Und dann starb er«, ergänzte Hermione.
    »Starb?« fragte Elaine. »Wann denn?«
    »Es stand in allen Zeitungen.«
    »Ich habe wenig gelesen«, gestand Elaine. »Was ist passiert?«
    »Er ist gestorben«, sagte Sam. »Sie brachten ihn zum Flughafen, damit er nach Hause fliegen konnte, und da geschah ein Unfall. Er wurde getötet, einfach so.« Er schnippte mit Daumen und Zeigefinger. »Aus und vorbei.«
    »So traurig«, sagte Hermione.
    Sie sah Elaine an und runzelte die Stirn, was Elaine erstaunte, bis sie – mit demselben Schock der Erkenntnis, den sie in Chimes’ Büro empfunden hatte, als sie die Tränen bemerkte –, bis sie feststellte, daß sie lächelte.
    Also war der Seemann tot.
    Als sich die Party in den frühen Morgenstunden des Samstags auflöste, als die Umarmungen und Küsse vorbei waren und sie wieder zu Hause saß, dachte sie über jenes Interview mit Maybury nach, rief sich sein von der Sonne verbranntes Gesicht ins Gedächtnis, die von den Weiten, in denen er beinahe verschwunden wäre, geöffneten Augen, dachte an die Mischung aus Unbeteiligtheit und leichter Verlegenheit, mit der er die Geschichte seines blinden Passagiers erzählt hatte.
    Und natürlich an seine letzten Worte, als er bedrängt worden war, die Identität seines Passagiers preiszugeben. »Der Tod, nehme ich an«, hatte er gesagt. Er hatte recht gehabt.
    Sie erwachte spät am Sonntag vormittag und ohne den befürchteten Kater. Sie hatte einen Brief von Mitch bekommen, machte ihn aber nicht auf, sondern stellte ihn auf den Kaminsims, um ihn später in einem Augenblick der Muße zu lesen.
    Der Wind brachte den ersten Schnee des Winters mit sich, aber er war so naß, daß er nicht auf der Straßen liegenblieb. Die Kälte war jedoch beißend, den finsteren Mienen der Passanten nach zu urteilen. Aber sie fühlte sich seltsam immun dagegen.
    Obwohl sie die Wohnung nicht geheizt hatte, lief sie barfuß und nur im Bademantel herum, als würde in ihrem Bauch ein Feuer geschürt.
    Nach dem Frühstück ging sie sich waschen. Verfilzte Haare verstopften den Abfluß; sie fischte sie heraus und warf sie ins Klo, dann ging sie wieder zum Waschbecken. Seit Entfernung der Tumore hatte sie eingehende Betrachtungen ihres Körpers vermieden, aber heute schienen ihre Bedenken und ihre Eitelkeit verschwunden zu sein. Sie streifte den Morgenmantel ab und betrachtete sich kritisch im Spiegel.
    Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Ihre Brüste waren voll und dunkel, die Haut hatte einen erfreulichen Seidenglanz, das Schamhaar war nachgewachsen und üppiger denn je. Die Narben waren immer noch empfindlich und fühlten sich auch so an, aber in ihren Augen war die blasse Linie ein Zeichen für den Ehrgeiz ihrer Möse, als könnte ihr Geschlechtsteil jetzt jeden Tag vom Anus bis zum Nabel wachsen (möglicherweise weiter) und sie öffnen; sie schrecklich machen.
    Es war sicherlich paradox, daß sie sich erst jetzt, nachdem die Chirurgen sie ausgeleert hatten, so reif, so fraulich fühlte.
    Sie stand eine volle halbe Stunde vor dem Spiegel und bewunderte sich und ließ ihre Gedanken schweifen. Schließlich wusch sie sich und ging, immer noch nackt, wieder ins Wohnzimmer. Sie verspürte keinen Wunsch, sich zu bedecken, ganz im Gegenteil. Sie mußte sich beherrschen, daß sie nicht, wie sie war, in den Schnee hinausging und der ganzen Straße etwas gab, das sie nicht vergessen würde.
    Sie ging zum Fenster und dachte ein Dutzend solcher närrischer Gedanken. Der Schnee fiel inzwischen dichter. Durch das Schneegestöber hindurch nahm sie eine Bewegung in der kleinen Straße zwischen den Häusern gegenüber wahr. Jemand war da und beobachtete sie, aber sie konnte nicht sehen, wer es war.
    Es störte sie nicht. Sie blieb stehen, der Voyeur des Voyeurs, und fragte sich, ob er den Mut haben würde, sich zu zeigen, aber das tat er nicht.
    So stand sie mehrere Minuten da, bis ihr klarwurde, daß ihre Unerschrockenheit ihn eingeschüchtert und verjagt hatte. Sie ging enttäuscht ins Schlafzimmer zurück und zog sich an. Es wurde Zeit, daß sie etwas zu essen bekam; sie spürte wieder den nun schon vertrauten heftigen Hunger in sich. Der Kühlschrank war so gut wie leer. Sie würde fürs Wochenende einkaufen gehen müssen.
    In Supermärkten geht es zu wie im Zirkus, vor allem am Samstag, aber Elaine war so beschwingter Laune, daß es ihr überhaupt nichts ausmachte, sich einen Weg durch das Gewühl bahnen zu müssen. Heute fand sie sogar

Weitere Kostenlose Bücher