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Das 6. Buch des Blutes - 6

Das 6. Buch des Blutes - 6

Titel: Das 6. Buch des Blutes - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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hatte. Die Polizeiwache war seit ihrem letzten Besuch verdreifacht worden, und das Segeltuch, das den Eingang zur Krypta verborgen hatte, war jetzt ein großes, von Gerüsten gestütztes Zelt, das die gesamte Flanke des Bauwerks umfaßte. Die Altardiener, die dicht am Zelt standen, trugen Masken und Handschuhe; die Hohenpriester – die wenigen Auserwählten, denen tatsächlich Zutritt ins Allerheiligste gestattet war – waren vollkommen in Schutzanzüge gekleidet.
    Sie beobachtete alles von der Absperrung aus: die Signale und Bekreuzigungen unter den Geweihten; das Abduschen der vermummten Männer, wenn sie hinter dem Vorhang hervorkamen; die feine Gischt der Desinfektionsmittel, die die Luft wie bitterer Weihrauch erfüllte.
    Ein anderer Zuschauer fragte einen der Wachtposten aus.
    »Wozu die Schutzanzüge?«
    »Falls es ansteckend ist«, lautete die Antwort.
    »Nach den vielen Jahren?«
    »Sie wissen nicht, womit sie es da drinnen zu tun haben.«
    »Krankheiten überdauern nicht, oder?«
    »Es ist ein Pestloch«, sagte der Beamte. »Sie sind einfach nur vorsichtig.«
    Elaine hörte sich die Unterhaltung an, und ihre Zunge brannte darauf zu sprechen. Sie hätte ihnen die Untersuchung mit wenigen Worten ersparen können. Immerhin war sie der lebende Beweis dafür, daß jene Pestilenz, welche die Familien in der Krypta dahingerafft hatte, nicht mehr ansteckend war.
    Sie hatte die Luft dort drinnen geatmet, sie hatte das verweste Fleisch berührt, und sie fühlte sich so gesund wie seit Jahren nicht mehr. Aber sie würden ihr bestimmt nicht für ihre Enthüllungen danken. Sie waren zu sehr mit ihren Ritualen beschäftigt, vielleicht sogar erregt über die Entdeckung solcher Schrecken, wobei ihre Unruhe möglicherweise zusätzliche Nahrung erhielt durch die Vorstellung, dieser Tod könnte immer noch am Leben sein. Elaine wollte nicht so unfair sein und diesen Enthusiasmus mit einem Bekenntnis über ihre erstaunlich gute Gesundheit zunichte machen.
    Statt dessen kehrte sie den Priestern und ihren Ritualen und der Weihrauchgischt den Rücken zu und entfernte sich von dem Platz. Als sie aus ihren Gedanken aufschreckte, entdeckte sie eine bekannte Gestalt, die sie von der nächsten Straßenecke aus beobachtete. Er wandte sich ab, als sie aufschaute, aber es war zweifellos Kavanagh. Sie rief seinen Namen und ging zu der Ecke, aber er entfernte sich mit gesenktem Kopf und schnellen Schrittes von ihr. Sie rief noch einmal, und jetzt drehte er sich um – ein durch und durch falscher Ausdruck der Überraschung huschte über sein Gesicht – und kam seinen Fluchtweg wieder zurück, um sie zu begrüßen.
    »Haben Sie gehört, was sie gefunden haben?« fragte sie ihn.
    »O ja«, antwortete er. Trotz der Vertrautheit, die beim letzten Mal zwischen ihnen geherrscht hatte, wurde sie jetzt an den ersten Eindruck erinnert, den sie von ihm gehabt hatte: daß er nicht zu den Männern gehörte, die ihren Gefühlen offen Ausdruck verliehen.
    »Jetzt werden Sie Ihre Steinplatten nie bekommen«, sagte sie.
    »Ich fürchte nicht«, antwortete er, schien aber nicht sonderlich betroffen über den Verlust zu sein.
    Sie wollte ihm sagen, daß sie das Pestloch mit eigenen Augen gesehen hatte, und hoffte, diese Neuigkeit würde sein Gesicht aufhellen, aber diese sonnenbeschienene Straßenecke war kein angemessener Ort für derlei Unterhaltungen. Außerdem war es fast, als wüßte er es. Er sah sie so seltsam an, und die Herzlichkeit ihrer früheren Begegnungen war völlig dahin.
    »Warum sind Sie zurückgekommen?« fragte er sie.
    »Nur um zu sehen«, antwortete sie.
    »Ich fühle mich geschmeichelt.«
    »Geschmeichelt?«
    »Daß meine Begeisterung für Mausoleen ansteckend ist.«
    Er betrachtete sie immer noch, und als sie den Blick erwiderte, wurde ihr bewußt, wie kalt seine Augen waren und wie makellos glänzend. Sie hätten aus Glas sein können, dachte sie; und die Haut wie eine Kapuze an der zierlichen Architektur des Schädels festgeleimt.
    »Ich sollte gehen«, sagte sie.
    »Geschäft oder Vergnügen?«
    »Keins von beidem«, sagte sie ihm. »Ein oder zwei meiner Freunde sind krank.«
    »Aha.«
    Sie hatte den Eindruck, daß er fortwollte; daß ihn lediglich die Angst davor, albern zu wirken, davon abhielt, vor ihr wegzulaufen.
    »Vielleicht sehen wir uns wieder«, sagte sie. »Irgendwann.«
    »Ganz sicher«, antwortete er, griff sein Stichwort dankbar auf und wich in die Straße hinein zurück. »Und für Ihre Freunde – meine besten

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