Das 6. Buch des Blutes - 6
einen Augenblick nahm ihr die plötzliche Helligkeit die Sicht.
Sie kniff kurz die Augen und sah dann noch einmal hin.
Dies also war der Tod. Keine Spur der Kunst oder Schönheit, von denen Kavanagh gesprochen hatte; kein ruhiges Aufbahren von in Leichentücher gehüllten Gestalten auf kalten Marmortafeln; keine kostbaren Reliquienschreine, keine Aphorismen über die Natur der menschlichen Vergänglichkeit, nicht einmal Namen und Daten. In den meisten Fällen hatten die Leichen nicht einmal Särge.
Die Krypta war ein Gebeinehaus. Überall waren Leichen zu Haufen aufgeschichtet worden; ganze Familien in Nischen gezwängt, die nur für einen einzigen Sarg gedacht gewesen waren, weitere Dutzende waren liegengeblieben, wo hastige und achtlose Hände sie hingeworfen hatten. Die Szene – obschon vollkommen still – quoll über vor Panik. Sie war in den Gesichtern, die von den Stapeln der Toten herabsahen: in stummem Protest aufgerissene Münder, Augenhöhlen, in denen die Augen verwest waren, weit aufgerissen vor Schock über eine solche Behandlung. Sie war auch daran zu erkennen, wie das Begräbnissystem ausgeartet war, von den ordentlichen Sargreihen am Ende der Krypta über die planlos aufgeschichteten behelfsmäßigen Särge – das Holz unbearbeitet, die Deckel ohne Kennzeichnung, abgesehen von einem hingekritzelten Kreuz – bis zu dieser letzten übereilten Aufhäufung von Leichen, bei der sämtliche Sorgen um Würde, möglicherweise um jegliche Übergangsriten, in der aufkommenden Hysterie vergessen worden waren.
Eine Katastrophe war geschehen, daran gab es für Elaine keinen Zweifel. Ein plötzlicher Zustrom von Leichen – Männer, Frauen, Kinder (zu ihren Füßen lag ein Baby, das keinen Tag gelebt haben konnte) –, die in so eskalierender Anzahl gestorben sein mußten, daß nicht einmal Zeit geblieben war, ihre Lider zu schließen, bevor sie in diese Grube abgeschoben wurden. Vielleicht waren auch die Sargmacher gestorben und hier zwischen ihre Kunden geworfen worden; auch die Leichentuchnäherinnen und die Priester. Alle innerhalb eines apokalyptischen Monats (oder einer Woche) dahin, die überlebenden Verwandten zu schockiert oder zu ängstlich, um noch an die Feinheiten zu denken, sondern nur darauf bedacht, die Toten aus den Augen zu haben, an einem Ort, wo sie niemals wieder deren Fleisch anschauen mußten.
Vieles von diesem Fleisch war noch deutlich zu sehen. Die Versiegelung der Gruft hatte sie gleichzeitig von der zerstörerischen Luft abgeschnitten, und die Bewohner blieben unversehrt. Nun, da die Geheimkammer gewaltsam aufgebrochen war, loderte die Hitze des Verfalls wieder auf, das Gewebe verweste von neuem. Überall sah Elaine Fäulnis am Werk, Wundstellen und Eiterungen, Blasen und Pusteln entstanden. Sie hielt das Feuerzeug höher, damit sie besser sehen konnte, obwohl der Gestank des Verderbens auf sie einstürmte und ihr schwindlig wurde. Wohin ihr Blick auch wanderte, überall schien sie einen erbarmenswerten Anblick zu beleuchten. Zwei Kinder, die beieinanderlagen, als hielten sie sich im Schlaf um-schlungen; eine Frau, die sich offenbar in letzter Minute das kranke Gesicht geschminkt hatte, um eher des Ehebettes als des Grabes würdig zu sterben.
Sie mußte hinsehen, sie konnte nicht anders, wenngleich sie mit ihrer Faszination die Leichen um ihre Abgeschiedenheit betrog. Es gab so vieles zu sehen und sich einzuprägen. Sie konnte niemals wieder die alte sein, nachdem sie dies alles gesehen hatte, oder? Eine Leiche, die halb versteckt unter einer anderen lag, erweckte ihre besondere Aufmerksamkeit: eine Frau, deren kastanienfarbenes Haar so füllig um den Kopf wallte, daß Elaine sie darum beneidete. Sie trat näher, damit sie sie besser sehen konnte, und dann warf sie den letzten Rest Zurückhaltung über Bord, packte den Leichnam, der über der Frau lag, und zog ihn weg. Das Fleisch des Leichnams war schmierig und hinterließ Flecken auf ihren Fingern, aber sie machte sich nichts daraus. Die freigelegte Leiche lag mit gespreizten Beinen da, die aber durch das ständige Gewicht des Gefährten zu einer unmöglichen Stellung verbogen waren. Die Verletzung, an der die Frau gestorben war, hatte ihr die Schenkel blutig gemacht und den Rock an Unterleib und Lenden festgeklebt. Hatte sie eine Fehlgeburt gehabt, fragte sich Elaine, oder hatte eine Krankheit dort sie verzehrt?
Sie konnte sich nicht losreißen und bückte sich, um den verträumten Ausdruck auf dem verwesten Gesicht der Frau
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