Das achte Opfer
Schlagadern gespritzt, jetzt wurde es von dem immer schwächer werdenden Herzen herausgepumpt. Der Weißhaarige rutschte in seinem Sessel zusammen, die Augen ungläubig aufgerissen, sein Mund gab letzte, unverständliche Laute von sich.
Der Besucher ging um den Sessel herum und stand jetzt vor dem immer kraftloser werdenden Weißhaarigen, blickte direkt in dessen Augen. »Du wirst deinen gottverdammten Schwanz nie mehr in irgend jemanden hineinstecken!« flüsterte er. Er öffnete seinen Aktenkoffer, zog die Gummihandschuhe über und begann sein Ritual zu vollziehen.
Der Besucher hatte in diesem Raum nichts angefaßt außer dem Glas, das er abwischte, bevor er ging. Er öffnete leisedie Tür und ließ sie offenstehen, ebenso ließ er das Licht brennen. Er mußte etwa hundert Meter gehen, bis er vor seinem Wagen stand. Er stieg ein, legte Debussy in den CD-Spieler, startete den Motor. Es war kurz vor elf, und der Mann, mit dem er für halb zwölf verabredet war, haßte nichts mehr als Unpünktlichkeit. Doch es würde das letzte Mal sein, daß er sich mit ihm traf.
Montag, 23.30 Uhr
Julia Durant hatte Schwierigkeiten mit dem Einschlafen. Die vergangenen Tage zerrten an ihren Nerven, die vielen Toten, von denen ihr besonders die beiden Frauen am meisten leid taten. Dazu der unerträgliche Gedanke, daß es im Präsidium Stellen gab, die selbst geheimste Informationen an Unbefugte weitergaben. Und sie ahnte, daß der Täter sehr bald wieder zuschlagen würde, vielleicht sogar schon zugeschlagen hatte.
Es war heiß im Zimmer, sie wälzte sich unruhig im Bett hin und her, schloß die Augen in der Hoffnung, doch einzuschlafen, öffnete sie wieder, als sie merkte, daß der Schlaf nicht herbeigezwungen werden konnte. Sie warf die Bettdecke zur Seite, stand auf, ging an den Kühlschrank, holte eine weitere Dose Bier heraus, riß den Verschluß auf. Sie trank in kleinen, gleichmäßigen Schlucken. Mit der Dose in der Hand stellte sie sich ans Fenster, sah hinunter auf die menschenleere Straße. Irgendwer in dieser großen Stadt, dachte sie, spielt Gott. Irgendwer glaubt anscheinend diese Stadt vom menschlichen Unrat befreien zu können. Sie rauchte und überlegte; sie war zwar zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen, aber auch zu wach, um einschlafenzu können. Der Himmel hatte sich bezogen, Wind war aufgekommen, der vielleicht die drückende Luft im Zimmer vertrieb. Der Wetterbericht hatte für die Nacht vereinzelte Gewitter angesagt, und als Julia Durant zum Horizont blickte, meinte sie, leichtes Wetterleuchten wahrzunehmen. Sie nahm einen weiteren Schluck Bier, behielt die Dose in der Hand. Unter ihr lief ein verliebtes Pärchen sich leise unterhaltend vorbei, aus der anderen Richtung kam ein Wagen. Im Stockwerk unter ihr war noch Licht, durch das offene Fenster drang klassische Musik. Irgendwo schrie ein Mädchen oder eine Frau, doch es kam oft vor, daß man Schreie in der Stille der Nacht hörte, und man wußte nie, ob diese Schreie einen ernsten Hintergrund hatten oder einfach nur zu einem Spiel gehörten. Sie rauchte die Zigarette zu Ende, drehte sich um, drückte sie im Aschenbecher aus, trank die Dose leer. Sie setzte sich auf die Bettkante, ließ sich zurückfallen, die Arme nach oben gestreckt. Sie wollte sich gerade die Bettdecke überziehen, als das Telefon anschlug. Sie ließ es dreimal läuten, bevor sie den Hörer in die Hand nahm.
»Ja?« sagte sie nur.
»Kommissarin Durant?« fragte eine männliche Stimme, die etwas Synthetisches hatte. Wahrscheinlich war sie verstellt.
»Ja, und wer sind Sie?«
»Das spielt im Augenblick keine Rolle. Es tut mir leid, Sie zu so später Stunde noch zu stören, aber ich finde keine Ruhe mehr. Ich halte es nicht mehr aus.«
Der Anrufer machte eine Pause, und als er keine Anstalten machte fortzufahren, fragte die Kommissarin: »Was halten Sie nicht mehr aus?«
»Die Morde, die ganze Situation. Ich bin am Ende mit meiner Kraft. Ich möchte mit Ihnen reden.« Er wirkte hektisch und nervös.
»Jetzt?«
»Nein, um Himmels willen nein, nicht jetzt. Morgen, am besten morgen abend. Es ist grausam, was passiert, aber die Opfer sind selber schuld . . .«
»Sind Sie der Täter?«
»Nein, ich bin nicht der Täter, und ich kenne ihn auch nicht. Aber ich möchte Ihnen Informationen geben, die weit über das hinausgehen, was Sie sich vorstellen können. Mit diesen Informationen können Sie eine Menge anfangen. Sie sind aber so umfangreich, daß wir uns treffen müßten.
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