Das achte Opfer
lautlos. Er sah zur Uhr, kurz vor halb elf. Er lehnte sich zurück, starrte an die Wand mit dem Kamin, nahm die Pfeife in die Hand, stopfte sie und zündete sie an. Im Nu erfüllte der würzige Duft des Tabaks das Zimmer. Der Besucher war für genau halb elf angemeldet. Er war pünktlich. Er trug einen Aktenkoffer bei sich.
»Es ist schön, daß Sie die Zeit gefunden haben, sich mit mir zu so später Stunde zu treffen. Ich hoffe, ich bereite Ihnen nicht allzu viele Umstände«, sagte der Weißhaarige, während er die Tür hinter sich zumachte.
»Es ist meine Aufgabe, mich auch zu ungewöhnlichen Zeiten mit ungewöhnlichen Menschen zu treffen«, sagte der Besucher, ein großgewachsener Mann mit dunkelbraunem, an den Schläfen bereits lichtem Haar. »Außerdem haben Sie mir ja bereits vorgestern diesen Termin vorgeschlagen.«
»Setzen wir uns doch«, sagte der Weißhaarige und deutete auf einen Sessel vor dem Kamin. »Möchten Sie auch etwas trinken?« fragte er. »Einen Sherry vielleicht?«
»Wenn Sie einen Cognac hätten, wäre mir das noch lieber, aber . . .«
»Natürlich bekommen Sie einen Cognac von mir. Einen Augenblick.« Der Weißhaarige ging an den Glastürenschrank, holte zwei Gläser heraus und schenkte erst den Cognac, danach den Sherry ein. Er reichte das Glas mit dem Cognac dem Besucher und setzte sich ihm gegenüber in den zweiten Sessel.
»Nun«, fragte der Besucher, »was kann ich für Sie tun?«
Der Weißhaarige lächelte, nahm einen Schluck, sah seinGegenüber kurz, aber intensiv aus graublauen Augen an.
»Es ist eine etwas heikle Situation. Wir kennen uns nun schon so lange, und Sie sind stets ein guter Berater gewesen. Ich gehe natürlich davon aus, daß kein Wort von dem, was wir hier besprechen, nach außen dringt . . .«
»Sie können sich auf meine Diskretion verlassen – wie immer.«
»Gut, ich habe auch nichts anderes erwartet. Es geht um diese drei schrecklichen Morde, Sie wissen schon, Matthäus, Neuhaus und Winzlow. Ich möchte verhindern, daß der Täter auch zu mir kommt. Ich habe ehrlich gesagt Angst. Was kann ich tun, um sicher zu sein?«
»Warum sollte der Mörder ausgerechnet zu Ihnen kommen?« fragte der Besucher und nippte an seinem Cognac.
»Sie wissen genau, welche schwachen Stellen es in meinem Leben gibt. Und Sie wissen, daß ich unter Umständen auch auf der schwarzen Liste stehen könnte. Genau wie einige andere Namen auch.«
»Ja, das weiß ich«, erwiderte der Besucher und trank seinen Cognac aus. Er stand auf, stellte sich an den Kamin, mit dem Gesicht zur Wand. Einen Arm hatte er aufgestützt, die andere Hand war in seiner Jackentasche. »Aber ich werde Ihnen nicht helfen können. Sie müßten die Organisation um Hilfe bitten.«
»Die Organisation!« erwiderte der Weißhaarige bitter. »Als ob die mir Schutz bieten würden! In dem Augenblick, wo ich meine Unsicherheit und Angst zu erkennen gebe, bringen die mich selber um. Nein, die Organisation muß in diesem Fall aus dem Spiel bleiben. Außerdem tut es mir schon seit Jahren leid, ihr überhaupt beigetreten zu sein. Ich schäme mich dafür, genau wie für die anderen Sachen, die ich gemacht habe. Sollten diese Dinge jemals an die Öffentlichkeit geraten«, er lachte wieder auf, diesmal bitter, »ichwäre ein gelieferter Mann. Ich würde diese Schmach nicht überleben. Was also kann ich tun?«
»Gehen Sie zur Polizei, und bitten Sie sie um Schutz.«
»Und mit welcher Begründung? Vielleicht der, daß ich mich bedroht fühle?! Die würden mich doch nur auslachen.«
»Wahrscheinlich würden sie das tun. Und sie würden anfangen, in Ihrem Leben herumzuschnüffeln. Und über kurz oder lang würde Ihr Intimleben zwangsläufig publik werden. Und Ihr Intimleben ist – gelinde gesagt – eine Sauerei.«
»Bitte? Moment mal«, sagte der Weißhaarige entrüstet, »wie kommen Sie dazu, so mit mir zu reden? Ich habe Sie um Ihre Hilfe gebeten und nicht um moralische Belehrungen.«
»Entschuldigen Sie, ich vergaß,
Sie
geben ja diese moralischen Belehrungen. Sie haben sie tausendfach Ihren Schäfchen gegeben. Sie haben ihnen gesagt, sie würden zur Hölle fahren, wenn sie Unzucht trieben, sich der Hurerei oder dem Götzendienst hingäben. Sie haben all das angeprangert, was Sie selbst seit Jahrzehnten praktiziert haben – Unzucht, Hurerei, Götzendienst. Sie sind ein falscher Prophet oder, wie es so schön heißt, ein Antichrist. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken.« Er machte eine Pause, holte tief Luft,
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