Das achte Opfer
bevor er fortfuhr: »Wissen Sie, wie das ist, wenn man eine Familie hat, in der man sich geborgen fühlt? Nein, natürlich wissen Sie das nicht. Sie dürfen ja keine Familie haben, die einzige Entschuldigung übrigens, die ich in Ihrem Fall gelten lassen würde. Aber ich hatte eine Familie, eine liebe Frau, phantastische Kinder, uns ging es gut. Wir glaubten nicht, daß eines Tages das Böse über uns kommen könnte. Aber es kam, langsam und schleichend, so langsam und so schleichend, daß wir es erst bemerkten, als es zu spät war. Erst war es meine Tochter Carla, die von dem Bösen heimgesucht wurde, dann mein Sohn Patrick. Carla wargerade fünfzehn, als sie starb, vollgepumpt mit Drogen und Alkohol, ihr Körper war ein einziges Wrack. Und Patrick war kaum zwanzig, als er ermordet wurde. Ermordet von den Leuten, denen Sie dienen . . .«
»Sie etwa nicht?« fragte der Weißhaarige mit kehliger Stimme.
»Nur so lange, bis meine Aufgabe erfüllt ist. Aber im Prinzip diene ich diesen Leuten nicht mehr, ich habe längst damit aufgehört. Früher habe ich auch nur meine Pflicht getan, doch dann brach das Unheil über meine Familie herein, und ich fragte mich, wieso meine Kinder so grausam sterben mußten. Es war ein Zufall, daß ich es herausfand. Aber manchmal brauchen wir Zufälle, um auf den richtigen Weg geführt zu werden. Ich werde Ihnen jetzt aber nichts über Zufälle erzählen, sondern von meiner Frau. Schon nach Patricks Tod, der seine Schwester aus den Klauen des Bösen befreien wollte und dabei umgebracht wurde, fiel meine Frau in sich zusammen. Sie ertränkte ihren Kummer in Alkohol und Tabletten, und als Carla starb, brach sie völlig zusammen. Sie versuchte, sich das Leben zu nehmen, doch glücklicherweise wurde sie rechtzeitig von unserem Hausmädchen gefunden und in die Klinik gebracht. Das ist jetzt fünf Jahre her. Seitdem lebt sie in einer anderen, mir fremden Welt, zu der ich keinen Zugang mehr habe. Sie ist noch immer schön, aber ihre Seele scheint ihren Körper verlassen zu haben. Ihre Augen strahlen nicht mehr, sie sind stumpf und leer geworden. Sie lacht nicht mehr, dabei habe ich ihr Lachen so gern gehört. Der Übermut, den sie sich bis zuletzt bewahrt hatte, ist dahin, nichts ist mehr wie früher. Und manchmal denke ich, es wäre besser für sie gewesen, man hätte sie nicht rechtzeitig gefunden, als sie sich selbst töten wollte. Aber ich liebe meine Frau, und ich werde auch nicht aufhören, sie zu lieben. Denn sie hat es verdient, geliebt zuwerden . . . So wie meine Kinder es verdient hatten. Doch es gab Menschen, die das nicht zugelassen haben. Können Sie sich vorstellen, wie verzweifelt ich war? Nein, auch das können Sie nicht. Sie können sich überhaupt nicht in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer hineinversetzen. Sie lesen in Ihrer Bibel, sprechen salbungsvolle Worte, doch Ihre Worte sind leer und voller Heuchelei. Als ich herausfand, wie abartig Ihre Neigungen sind, wollte ich es nicht glauben. Ich wollte und konnte nicht glauben, daß ein Mann Ihres Standes zu solchen Dingen fähig ist. Sicher, ich habe schon viel über homosexuelle Priester gehört, hier und da sogar von einem, der sich an kleinen Jungs vergangen hat, aber Ihre Sache ist eine besondere. Denn Sie sind mehr als nur ein Priester. Und Sie haben Schlimmeres getan, als nur Ihrer Homosexualität nachzugehen. Sie haben der Organisation Kinder in die Hände gespielt, Kinder aus Ihrem Gemeindebereich, die von einem Tag auf den anderen verschwanden. Und die man nie fand und vermutlich auch nie finden wird. Und die Organisation hat es Ihnen gedankt. Eine Hand wäscht die andere, so ist es doch, oder? Sie wurden zu einem führenden Mitglied, anerkannt, wohlhabend und durchtrieben wie die anderen. Nun sagen Sie, welcher Seite gehören Sie an – der Seite Gottes oder der Seite Satans? Was, habe ich mich tausendmal gefragt, treibt einen nach außen hin so ehrwürdigen Mann wie Sie dazu, seine abgründigen Perversionen derart hemmungslos auszuleben? Seien Sie ehrlich, Sie dienen nicht Gott, Sie haben ihm wahrscheinlich nie gedient. Denn Gott zu dienen bedeutet, den Menschen zu dienen, ihnen zu helfen, wenn sie in Not sind, sie vor dem Bösen zu bewahren, vor allem aber, die Kleinen und Unschuldigen zu beschützen. Haben Sie das je getan?«
»Warum erzählen Sie mir diese Geschichte? Was wollen Sie von mir?«
»Warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle?« Der Besucher lachte leise auf. »Vielleicht, um Ihnen einen Spiegel
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