Das achte Opfer
kennen das inzwischen.«
»Okay«, sagte Durant, »bringen wir’s hinter uns. Ist der Haftrichter schon informiert?«
»Natürlich, gestern schon. Was glauben Sie, wie lange Sie für die Befragung benötigen?«
»Weiß nicht«, erwiderte sie achselzuckend, »zwei, drei Stunden, länger nicht. Er hat ja praktisch schon gestanden. Das einzige Problem könnte sein, daß er behauptet, diese Tietgen nicht umgebracht zu haben. Denn daß er sie umgebracht hat, können wir ihm nicht nachweisen. Dann bleiben uns nur noch die in seiner Wohnung gefundenen Drogen und Waffen. Und dafür wandert er nicht lebenslänglich in den Bau.«
»Das tut er auch nicht, wenn er ein Geständnis ablegt. Diese Verona Tietgen war nämlich kein unbeschriebenes Blatt. Sie wohnte erst seit zwei Jahren in Frankfurt, davor in Hamburg. Dort ist sie, seit sie fünfzehn war, auf den Strich gegangen, hat hier und da als Drogenkurier fungiert und hat auch schon einige Male wegen Einbruchs und einmal sogar wegen schwerer Körperverletzung vor Gericht gestanden. Für letzteres hat sie zwei Jahre auf Bewährung bekommen. Nachdem die Bewährung abgelaufen war, ist sie nach Frankfurt gezogen. Aber ihre Kontakte schienen erstklassig gewesen zu sein. Und Schenk ist mit Sicherheit nicht blöd, der wird genau über die Vergangenheit dieser Tietgen Bescheid wissen. Mehr als zehn Jahre kriegt der auf gar keinen Fall, wenn überhaupt. Ein cleverer Anwalt wie Dreekmann zum Beispiel, und der Kerl ist nach spätestens fünf Jahren wieder draußen.«
»Was soll’s«, sagte die Kommissarin. »Nehmen wir ihn uns vor und dann …« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und verdrehte die Augen. »Manchmal ist das ein Scheißjob. Ich kann nicht einmal beschreiben …«
»Brauchen Sie auch nicht, Kollegin. Als ich in Ihrem Alter war, kannte ich das auch. Mittlerweile ist alles nur noch blanke Routine. Ich rege mich nicht mehr auf, ich nehme die Dinge, wie sie kommen, und vor allem sage ich mir, das Leben geht weiter, so oder so. Irgendwann werden auch Sie an diesen Punkt gelangen.« Er drehte sich um und ging zurück zu seinem Schreibtisch und ließ seinen massigen Körper auf den Stuhl sinken. Er griff zum Telefon, wählte eine kurze Nummer und sagte: »Lassen Sie bitte den Gefangenen Schenk in das Büro von Hauptkommissarin Durant bringen. Danke.«
Dienstag, 13.00 Uhr
Die Befragung von Schenk war beendet, er hatte gestanden. Allerdings sagte er, es sei nicht Mord, sondern lediglich Notwehr gewesen, er habe nicht mehr gewußt, was er machen sollte, sie habe ihn mit einem Messer bedroht, wollte Geld und Drogen von ihm haben. Es sei zu einem Kampf gekommen, in dessen Verlauf er sie versehentlich getötet habe. Er habe ihr das Messer aus der Hand geschlagen und, als sie nicht aufhörte zu schreien, seine Hände um ihren Hals gelegt. An mehr könne er sich nicht erinnern. Es tue ihm furchtbar leid, er wisse, daß er Unrecht getan habe, aber es sei wirklich nichts als Notwehr gewesen. »Gehen wir eine Kleinigkeit essen?« fragte Julia Durant. Kommissar Hellmer sah sie an, nickte. »Einverstanden, ich hab noch nicht einmal gefrühstückt.«
»Warum das denn nicht?«
»Keinen Appetit. Egal. Komm, gehen wir.«
Sie wollten gerade den Raum verlassen, als die Tür aufging und ein Bote hereinkam. Er hielt einen weißen Umschlag in der Hand. »Für Hauptkommissarin Durant«, sagte er und reichte ihr den Brief. Sie zog die Stirn in Falten und nahm den Brief entgegen. Sie öffnete den Umschlag, zog den Brief heraus. Sie las.
»Und als das Lamm das vierte Siegel öffnete, hörte ich die Stimme des vierten Lebewesens rufen: Komm! Da sah ich ein fahles Pferd; und der, der auf ihm saß, heißt ›der Tod‹; und die Unterwelt zog hinter ihm her. Und ihnen wurde Macht gegeben über ein Viertel der Erde, Macht, zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde
…
Und die Könige der Erde, die Großen und die Heerführer, die Reichen und die Mächtigen … verbargen sich in den Höhlen und Felsen der Berge. Sie sagten zu den Bergen und Felsen: Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Blick dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes; denn der große Tag ihres Zorns ist gekommen. Wer kann da bestehen?« …
Danach folgte eine große Lücke, anschließend ein fett gedruckter Satz: »Dann geht es dem Gläubiger wie dem Schuldner, dem, der ausleiht, wie dem, der leiht.«
Julia Durant starrte die Zeilen an. Hellmer, der mitgelesen hatte, rieb sich
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