Das achte Opfer
mit der Hand übers Kinn und schüttelte den Kopf.
»Was soll das?« fragte er. »Was soll dieser Scheiß?«
»Was soll was?« fragte Kullmer, der plötzlich in der Türstand, kaugummikauend und lässig, fast provozierend, die Arme über der Brust verschränkt an den Türrahmen gelehnt.
»Wieder so ’n Brief wie gestern«, sagte Hellmer.
»Aus der Bibel?«
»Keine Ahnung.«
»Aus der Bibel«, sagte Julia Durant leise, den Blick zu Boden gerichtet. »Johannesoffenbarung, besser bekannt als Apokalypse.« Sie machte eine kurze Pause, holte tief Luft, kniff die Lippen zusammen. »Warum sind diese Briefe an mich adressiert? Warum ausgerechnet an mich?«
»Sie nehmen diesen Schwachsinn doch wohl nicht ernst, oder?« fragte Kullmer mit einem Grinsen, für das Durant ihn manchmal fast haßte.
»Und wenn?« fragte sie und blickte ihn kalt an. »Es ist meine Sache, oder?«
»Klar, aber ich meine ja nur . . .«
»Behalten Sie um Himmels willen Ihre Meinung für sich. Wenn ich sie hören will, frage ich Sie danach.«
Kullmer machte auf dem Absatz kehrt und ging in sein Zimmer zurück.
»Nimmst du’s denn ernst?« fragte Hellmer.
»Gestern war ich mir nicht sicher, ob ich’s ernst nehmen sollte. Aber das hier, vor allem der letzte Satz, gibt mir zu denken.
Dann geht es dem Gläubiger wie dem Schuldner, dem, der ausleiht, wie dem, der leiht.
«
»Gut, aber was bedeutet es?«
»Hellsehen kann ich nicht, tut mir leid. Aber irgend etwas will der Schreiber oder die Schreiberin wohl damit ausdrücken. Nur was?«
»Ich sehe deinem Gesicht an . . .«
»Was siehst du meinem Gesicht an?« unterbrach sie ihn schnell.
»Ach, nichts. Komm, laß uns was essen. Es liegt noch ein langer Nachmittag vor uns.«
Sie faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag. Sie nickte. »Gehen wir essen.«
Sie fuhren zu einem Italiener in Sachsenhausen. Julia Durant aß eine Portion Spaghetti Bolognese und trank dazu ein Glas Rotwein, während Hellmer sich eine Pizza und ein Glas Bier bestellte. Sie unterhielten sich im Gegensatz zu sonst fast nicht, tauschten nur ein paar Belanglosigkeiten aus. Julia Durants Gedanken kreisten die meiste Zeit um den ominösen Brief. Wer war der Verfasser, warum hatte er diese markanten Textstellen ausgewählt, warum waren die Briefe ausgerechnet an sie gerichtet?
Auf der Fahrt zum Präsidium fragte Hellmer: »Du machst dir Sorgen, stimmt’s?«
Julia Durant verzog gequält den Mund. »Ich weiß es nicht. Ich kann nicht einmal sagen, was ich genau denke oder fühle –«
»Meinst du, es hat jemand auf dich abgesehen?«
»Nein. Nein, ganz sicher nicht. Für was? Es gibt nichts Spektakuläres, wofür mich jemand ins Visier genommen haben könnte. Nee, da steckt was ganz anderes dahinter.«
»Und was?«
»Verdammt noch mal, ich hab doch keine Ahnung! Wenn ich’s wüßte, bräuchte ich mir keine Gedanken zu machen.«
»Entschuldigung, war nicht so gemeint.«
»Schon gut, ich hab nur ein Scheißgefühl, daß da etwas auf uns zukommt.« Sie zündete sich eine Zigarette an, kurbelte das Seitenfenster herunter. Sie kamen im Präsidium um kurz nach zwei an. Sie liefen über den langen Gang, ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Sie betraten das Büro. Die Kommissarin stutzte, sah auf ihren Schreibtisch.
Berger sah Durant an, fragte: »Ich habe gehört, Sie haben wieder einen Brief bekommen?«
»Sie haben richtig gehört«, antwortete sie kurz angebunden. »Von wem sind die?« fragte sie und deutete auf die Blumen.
»Keine Ahnung. Ein Kurier hat sie vor einer halben Stunde hier abgegeben.«
»Weiße Lilien«, flüsterte sie und ging näher heran. »Weiße Lilien werden auf Gräber gelegt.«
»Ich weiß«, sagte Berger, »ich habe einige Male weiße Lilien auf ein Grab gestellt.«
»Da ist auch ein Umschlag drin.« Sie riß die Folie auseinander, nahm den Umschlag in die Hand, öffnete ihn, las:
Ich hoffe, die Blumen gefallen Ihnen. Wenn nicht, dann tut es mir leid. Doch was geschehen wird, muß geschehen, die Sünde darf nicht ungesühnt bleiben.
»Hier, ich schenk Ihnen die Blumen. Ich kann damit nichts anfangen. Und ich will sie auch nicht in meinem Büro haben.«
»Sie wollen mir zwölf Lilien schenken?«
»Woher wissen Sie, daß es zwölf sind?«
»Ich habe einfach nachgezählt. Es tut mir leid, ich wollte damit nicht Ihre Privatsphäre verletzen, es hat mich lediglich interessiert.«
»Zwölf Lilien«, murmelte Julia Durant. »Ob es mit der Zahl etwas auf sich
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