Das achte Opfer
hat?«
»Woher soll ich das wissen? Bin ich vielleicht Nostradamus?«
Hellmer legte einen Arm um die Schulter der Kommissarin. Sie sah ihn kurz von der Seite an, löste sich aus der Umarmung und setzte sich. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an, überlegte.
»Es ist irgendwie unheimlich. Erst die Briefe, dann diese Grabblumen. Eine riesengroße, verdammte Scheiße! Ich schätze, wir sollten uns schon darauf einstellen, daß etwaspassieren wird. Nur was und wo und wie und vor allem – wann? Hier fängt jemand an, ein Spiel mit uns zu spielen. Doch was für ein Spiel? Und wer wird der Verlierer sein?«
Dienstag, 19.30 Uhr
Julia Durant war seit kurz vor sechs zu Hause, hatte sich einen Jogginganzug angezogen und lag mit einer Tüte Kartoffelchips auf dem Bauch auf der Couch, neben der eine inzwischen leere Flasche Bier stand. Der Fernsehapparat lief, sie sah zwar hin, nahm aber nicht wahr, was gerade lief. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um die seltsamen Briefe und den Strauß Lilien. Sie hatte noch einmal in der Bibel nachgesehen und den ersten Teil des zweiten Briefes in der Johannesoffenbarung gefunden, den anderen, fettgedruckten Satz jedoch nicht. Um Viertel vor sieben griff sie zum Telefonhörer und wählte die Nummer ihres Vaters. Er nahm nach dem dritten Läuten ab.
»Hallo, Vater, hier ist Julia.«
»Hallo, mein Kind, wie geht es dir?«
»Es geht. Aber es gibt ausnahmsweise mal einen triftigen Grund, weshalb ich anrufe. Ich habe nämlich eine Bitte. Ich bekomme seit gestern anonyme Briefe ins Präsidium, mit denen ich absolut nichts anfangen kann. Die Passagen stammen fast alle aus der Bibel, genauer gesagt aus der Johannesoffenbarung. Es gibt nur einen Teil, den ich nicht gefunden habe. Warte, ich lese es dir vor . . .
Dann geht es dem Gläubiger wie dem Schuldner, dem, der ausleiht, wie dem, der leiht . . .
Kannst du mir weiterhelfen, ob das aus der Bibel ist oder . . . na ja, irgendwas anderes?«
»Tja, ich weiß nicht so recht, aber es hört sich schon starknach der Bibel an. Allerdings nicht nach der Offenbarung. Und auch nicht nach der Übersetzung nach Luther, sondern eher nach der Einheitsübersetzung der katholischen Kirche. Ich tippe einfach mal auf Jesaja, er hat ja auch etliche sogenannte apokalyptische Kapitel verfaßt. Gib mir ein paar Minuten, ich werde den Abschnitt raussuchen und dich dann zurückrufen. Einverstanden?«
»Wenn ich dich nicht hätte . . .«
»Dann wäre jemand anderes dein Vater. Aber was mich interessiert – die Briefe, deuten Sie auf ein Verbrechen hin, oder ist schon eines geschehen?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Was mich aber besonders stutzig macht, ist ein Strauß weißer Lilien, den ich heute zusammen mit einem weiteren Schreiben erhalten habe. Der oder die schreibt:
Ich hoffe, die Blumen gefallen Ihnen. Wenn nicht, dann tut es mir leid. Doch was geschehen wird, muß geschehen, die Sünde darf nicht ungesühnt bleiben.«
Schweres Atmen am andern Ende der Leitung. Julia Durant fuhr fort: »Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Ist es ein religiöser Spinner oder jemand, der einfach nur total durchgeknallt ist, oder . . .«
»Ich ruf dich gleich zurück. Dann können wir noch ein wenig plaudern. Laß mich erst einmal die Schriftstelle suchen. Bis gleich.«
Sie hielt den Hörer noch einen Moment in der Hand, legte ihn schließlich zurück auf die Einheit. Ihr Vater rief nach zehn Minuten an.
»Ich hab’s. Jesaja 24, wie ich schon vermutete. Vers 2. In der Lutherübersetzung ist der Wortlaut ein wenig anders, doch im Prinzip wird genau das gleiche ausgedrückt, nur sollte ich vielleicht dazu sagen, daß der Schreiber diesen Vers auseinandergerissen hat. Er ist eigentlich länger. Eine Schlußfolgerung überlasse ich dir.«
»Danke für deine Hilfe. Und was sagst du zu den weißen Lilien?«
»Blumen des Todes, der Trauer, des Abschieds. Ich habe fast keine Beerdigung geleitet, zu der es keine weißen Lilien gab. Das gibt mir schon ein wenig zu denken.«
»Das heißt also, es könnte sein, daß hier in Frankfurt irgend jemand rumläuft – mein Gott, ich mag den Gedanken gar nicht zu Ende denken. Zwölf Lilien – steht jede für sich für Tod, Trauer oder Abschied?«
»Du hast mir bis jetzt nicht gesagt, wie viele dir geschickt wurden. Zwölf, eine ungewöhnliche Zahl. Auf der andern Seite auch eine mystische Zahl, sie drückt der Überlieferung nach die Ordnung im Universum aus. Man versteht sie als etwas Rundes,
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