Das achte Opfer
von Patrick enthalten war. Und mit einem Mal, während er zum ersten Mal seit Patricks Tod die Hefte seines Sohnes durchblätterte, von denen er meinte, es seien allesamt Schulhefte, stieß er auf etwas, das ihn zusammenzucken ließ. Es waren nur ein paar Namen, nur ein paar Telefonnummern, nur einige Ortsnamen, die ihm zunächst überhaupt nichts sagten. Aber allmählich, nach einigen Tagen, verdichtete sich das Bild vor seinen Augen; er wußte, daß er auf etwas gestoßen war, das Patrick auf der Suche nach seiner Schwester nach und nach herausgefunden hatte. Und es war der Anfang seiner Rache, die jetzt, da die wesentlichen Vorarbeiten abgeschlossen waren, beginnen konnte. Und diese Rache sollte nach seinem Willen für alle Beteiligten furchtbar werden. Er hatte keine Angst, denn er hatte nichts mehr zu verlieren.
Dienstag, 8.00 Uhr
Sie hatte, verglichen mit den letzten zehn oder zwanzig Nächten, erstaunlich gut geschlafen. Sie wachte auf, bevor der Wecker klingelte, stellte den Alarm aus, blieb aber noch eine Weile im Bett liegen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Decke. Der Vorhang bewegte sich sachte, ein sanfter Wind drang durch das gekippte Fenster, die Sonne bahnte sich allmählich einen Weg durch die Wolken. Sie dachte an den vergangenen Tag, den Mordund die schnelle Aufklärung, auch wenn Schenk noch nicht gestanden hatte, für einen Moment sah sie das vernachlässigte Baby vor sich, hoffte, es würde bald ein neues und gutes Zuhause finden. Sie dachte an den vor ihr liegenden Tag, daß noch einige Stunden an Befragungen vor ihr lagen, bis Schenk dem Haftrichter vorgeführt wurde. Danach vielleicht noch ein wenig Büroarbeit, dann wieder nach Hause und einen dieser geruhsamen, unendlich langweiligen Abende vor dem Fernseher verbringen oder vielleicht ein Buch lesen oder Musik hören oder mit Vater telefonieren oder – einfach schlafen. Um Punkt sieben warf sie die Bettdecke auf die Seite und stand auf. Sie stellte das Radio an, öffnete den Vorhang, sah aus dem Fenster. Die Nachrichten waren eher belanglos, der Wetterbericht versprach Temperaturen um fünfundzwanzig Grad und Sonnenschein. Der Himmel war jetzt nur noch von vereinzelten Wolken bedeckt, dominierend waren jedoch ein kühles, helles Blau und die jetzt in einem etwa Dreißig-Grad-Winkel über dem südöstlichen Horizont sich immer weiter nach oben und gen Süden schiebende Sonne. Sie stand einen Moment lang fast regungslos da, schaute auf die um diese Zeit noch relativ wenig befahrene Straße, sah ihren neuen Opel Corsa und fühlte sich irgendwie gut. Eigentlich war sie ein Morgenmuffel, sie wachte oft mit Übelkeit auf, weil sie häufig zuwenig gegessen, dafür aber zuviel geraucht hatte, nur heute war es anders, sie hatte weder das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, noch hatte sie diese leichten, stechenden Kopfschmerzen in der linken Schläfe, noch gab es irgendeinen anderen Anlaß, diesen Tag als einen schlechten zu bezeichnen. Sie wandte sich vom Fenster ab, ging barfuß durchs Schlafzimmer in den kombinierten Wohn-Eß-Bereich und von dort ins Bad. Sie wusch sich Hände und Gesicht, warf einen langen Blick in den Spiegel, ihre Haarewaren kaum zerwühlt, ein Indiz dafür, daß sie eine ziemlich ruhige Nacht verbracht hatte. Sie konnte sich auch nicht erinnern, geträumt zu haben, auch wenn sie wußte, daß jeder Mensch jede Nacht träumte, man sich aber an die meisten Träume am nächsten Morgen nicht erinnern konnte. Sie wußte jedoch aus eigener Erfahrung, daß Träume bisweilen Botschaften enthielten, und sie hatte solche Träume in der Regel in den frühen Morgenstunden, kurz bevor sie aufwachte, und meist beschäftigten sie sie den ganzen Tag lang, manchmal auch darüber hinaus. Sie hatte oft mit ihrem Vater über Träume gesprochen, der der festen Überzeugung war, daß Träume und ihre Botschaften nicht unterschätzt werden sollten. Er, der alte Priester, glaubte einfach nur, daß Träume ein Weg waren, durch die Gott sich mitteilte. Auch wenn Julia Durant nicht unbedingt diese Auffassung vertrat, so war sie sich doch der Macht und Aussagekraft von Träumen bewußt. Sie konnte sich an mindestens sechs Träume erinnern, die ihr ganz klar zukünftige Ereignisse vor Augen führten. So unter anderem den Tod ihrer Mutter, den infamen Ehebruch ihres Exmannes, ihren Umzug nach Frankfurt. Sie trocknete sich Gesicht und Hände ab, sprühte etwas Deo unter die Achseln, legte ein wenig Lippenstift auf und
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