Das achte Opfer
von denen eines bereits einmal durchgebrochen war, vor allem aber war das Mädchen mit dem HI-Virus infiziert. Wo sie sich den Virus eingefangen hatte, vermochte keiner zu sagen, ob durch eine verseuchte Spritze oder ungeschützten Geschlechtsverkehr …
Es blieben so viele Fragen offen. Warum war sie von einem Tag auf den anderen verschwunden? Wo hatte sie gelebt? Was hatte sie getan, um das Geld für ihren Stoff zu beschaffen? Wann war sie süchtig geworden? Und warum war siegestorben? Auf die letzte Frage hatte einer der Kriminalbeamten vom Drogendezernat lakonisch geantwortet, es sehe fast so aus, als habe sie sich das Leben genommen. Wer trinkt schon so viel Wodka auf einmal und gibt sich dann noch eine Überdosis fast reinen Heroins?
Carlas Mutter hatte nicht geweint, als sie vom Tod ihrer Tochter erfuhr. Sie war damals allein zu Hause gewesen, nur Anna, das Hausmädchen, war bei ihr. Nachdem ihr die Todesnachricht überbracht worden war, war sie nach oben ins Bad gegangen, hatte sich eingeschlossen, die fünfzig Tabletten Rohypnol mit einer halben Flasche Cognac runtergespült und darauf gewartet, daß auch für sie das Leben endlich ein Ende hatte. Doch Anna hatte sie gerade noch rechtzeitig gefunden, den Notarzt alarmiert, der sie sofort ins Krankenhaus bringen und den Magen auspumpen ließ. Nach einigen Tagen wurde sie in die geschlossene Abteilung des St.-Valentius-Krankenhauses, einer psychiatrischen Klinik im Rheingau, überwiesen, wo sie, mit Unterbrechungen, mehr als zwei Jahre zubrachte, wo man versuchte, ihr das Leben mit Tabletten und therapeutischen Maßnahmen wieder einigermaßen erträglich zu machen.
Doch trotz Tabletten und Therapie, die Bilder ihrer Kinder waren gegenwärtig, sie würde sie nie vergessen können, nie das Leid überwinden, das der Tod der beiden über sie gebracht hatte. Und die Polizei hatte nichts unternommen.
Ihr Mann hatte es in dem alten Haus nicht mehr ausgehalten, sie waren umgezogen, von dem kleinstädtischen Friedberg in das vierzig Kilometer entfernte Frankfurt, hatten sich eine Villa am Lerchesberg gekauft, von wo aus man vor allem abends einen herrlichen Blick auf das nächtliche Frankfurt hatte.
Seit drei Jahren lebte sie wieder zu Hause. Nur das Licht der Standleuchte neben dem Kamin brannte. Er bewegte sichfast lautlos über den tiefen, weichen Teppichboden auf seine Frau zu, stellte den Koffer neben dem Sessel ab, kniete sich vor sie, sah sie von unten herauf an. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie ein Lächeln über ihr Gesicht, schien der Hauch eines Glanzes das sonst leere Gesicht zu überziehen, doch mit einem Mal war da wieder diese Leere, der stumpfe Blick, die Teilnahmslosigkeit. Er faßte ihre kalten Hände, legte seinen Kopf auf ihre Schenkel. Dann blickte er wieder auf, fragte: »Hattest du einen angenehmen Tag?«
»Es geht«, murmelte sie, ohne ihn anzusehen.
»Es tut mir leid, Schatz, daß ich so spät komme, aber ich hatte heute furchtbar viel zu tun. Es wird aber nicht mehr oft vorkommen, das verspreche ich dir. Ehrenwort.«
Sie reagierte nicht darauf. Sie reagierte auf fast nichts mehr, was um sie herum geschah. Er erhob sich, drückte ihr einen Kuß auf die blassen Lippen, ging an den Schrank, holte die Flasche »Remy Martin« aus dem Barfach, schenkte sich ein halbes Glas voll ein, setzte sich seiner Frau gegenüber. Er trank in kleinen Schlucken. Als er ausgetrunken hatte, stellte er das Glas auf den Beistelltisch, vergrub den Kopf zwischen den Händen und weinte stumme Tränen. Er hatte die Menschen verloren, die ihm bis vor noch gar nicht allzu langer Zeit alles bedeutet hatten. Er war allein. Und wie es schien, würde er für den Rest seines Lebens allein bleiben. Er konnte aber auch nicht seiner Frau folgen in die Welt, in der sie sich befand. Er hatte noch einen Auftrag zu erfüllen, und dieser Auftrag erforderte seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit. Er hatte in dem neuen Haus ein Zimmer für Patrick und eines für Carla eingerichtet, ihre Möbel dort aufgestellt, ihre Bilder und Poster an die Wand gehängt, so, als wären sie nur vorübergehend abwesend. Er hatte einen Entschluß gefaßt, vor gut fünf Jahren, als er Patricks Zimmer,in dem seit seinem Tod nichts angerührt oder verändert worden war, zum ersten Mal wieder betreten hatte. Er hatte sich einfach nur umschauen wollen, Dinge berühren, die Patrick berührt hatte, Hefte durchblättern, die seine Handschrift trugen, die Luft atmen, in der noch ein Hauch
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