Das achte Tor
nötig ist, Nationen gründet oder zerstört. Die Familie. Glaube keinesfalls, dass ich übertreibe. In deinen Adern fließt ein anderes Blut. Das Blut der Macht.«
Nathan runzelte nur die Stirn. Das Blut der Macht?
Zumindest diese Formulierung war ihm suspekt. Doch schon fuhr sein Vater fort:
»Ich gehöre zu dieser Familie, so wie meine Eltern und meine Großeltern, seit ewigen Zeiten. Dennoch hatte ich mich kurz vor deiner Geburt dazu entschlossen, mich von ihr fernzuhalten. Es dauert zu lange, dir alles zu erzählen, aber du sollst wissen, dass dieser Entschluss durch die Begegnung mit deiner Mutter reifte und wir uns einig waren, ein gemeinsames Leben zu führen, obwohl meine Familie dagegen war. Ohne ihnen entfliehen zu wollen, hielt ich mich seit dieser Zeit auf Distanz und habe ihnen nie von dir erzählt. Sie zeichnet sich nicht unbedingt durch Toleranz aus, und da ich gewisse Reaktionen befürchtete, hielt ich es für das Beste, erst einmal abzuwarten. Diese Zurückhaltung hat sich jetzt erübrigt.«
Kurze Pause.
»Zu allen Zeiten war die Familie mit mächtigen Gegnern konfrontiert. Wir dachten allerdings schon, wir hätten sie 48
ausgelöscht, aber gewisse Zeichen in jüngster Vergangenheit deuteten darauf hin, dass dem nicht so ist. Mein Tod und der deiner Mutter bestätigen diese Befürchtung.«
Es war eine regelrechte Qual, seinem Vater zuzuhören, wie er von seinem eigenen Verschwinden sprach. Als er dieses Hologramm erstellt hatte, wusste er, dass er in Lebensgefahr war. Warum hatte er nicht mit ihm dar-
über geredet? Gab es für ihn tatsächlich keine Möglichkeit, dieses Drama zu verhindern?
»Du musst aus Kanada fliehen, Nathan. So bald wie möglich. Papiere und Geld sind in dieser Kassette versteckt.
Nimm alles an dich.«
Nathan beugte sich hinunter. Der Fingerabdruck seines Daumens hatte den holografischen Mechanismus ausgelöst und eine Schublade im unteren Teil entriegelt. Dort fand er einen Reisepass, ausgestellt auf den Namen Nathan Guerne, Nationalität: Französisch, und ein Bündel kanadischer Dollars und Euros. Ein kleines Vermögen.
Auf der Banderole war sorgfältig eine Telefonnummer notiert.
»Nimm das Flugzeug nach Marseille. Am besten noch heute, spätestens aber morgen. Wenn es keinen Direktflug gibt, buche einen mit Umsteigemöglichkeit. Hauptsache, du verschwindest so schnell wie möglich. Und ruf sofort nach deiner Ankunft diese Nummer an. Dann wird dich jemand abholen kommen. Ich hätte dich mit kanadischen Familienmitgliedern in Kontakt bringen können, aber ich fürchte, sie wären nicht sehr nett zu dir gewesen. Manch ein Groll hält sich hartnäckig.«
»Verstehe.«
Vor Verwirrung hatte Nathan laut geredet. Um sich 49
wieder zu fangen, steckte er den Pass und die Scheine in die Innentasche seines Parkas.
»Diejenigen, die dir nach dem Leben trachten, sind schlechter organisiert als wir und haben weitaus weniger Macht. In Frankreich bist du in Sicherheit, aber wenn du nicht …«
Mit ohrenbetäubendem Lärm zersprang hinter ihm die Fensterscheibe, und eine gewaltige Masse landete auf der Rückenlehne der Couch. Ein bedrohlicher, muskulöser Arm mit einem abscheulich grauen Fell fuhr durch die Luft. Scharfe, zehn Zentimeter lange Krallen wollten Nathan an die Kehle …
Doch der war weg.
Als hätte sich sein Körper plötzlich selbständig gemacht, war er genau in dem Moment, als die Scheibe zerbarst, unter den Tisch abgetaucht, hatte eine Rolle rückwärts gemacht und stand erst wieder auf, als er außer Reichweite war. Er riss die Augen auf. Die Kreatur, die auf der Couch kauerte, hatte nichts Menschliches, aber ein Tier war es auch nicht!
Am auffallendsten war das riesige, schäumende Wolfsmaul, das mit eindrucksvollen gelben Fangzähnen bestückt war.
Und dann diese orangefarbenen Augen mit vertikalen, fluoreszierenden Pupillen. Seine Ohren waren spitz und voller abstehender Borsten. Es hatte lange und kräftige Arme, an deren Ende Hände mit Krallen saßen, die einen Menschen mit einer einzigen Bewegung aufschlitzen konnten.
Nathan stand wie versteinert. Doch mehr noch als das Entsetzen bohrte sich eine lähmende Gewissheit in sein Gehirn:
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Ein Werwolf!
Das war ein Werwolf!
Langsam schob sich das Monster von der Couch. Grö-
ßer als ein Mensch, stellte es sich auf die Hinterbeine und bewegte sich mit erstaunlicher Anmut. Beim Zerschlagen der Glasscheibe hatte es sich verletzt. Das Blut rann in scharlachroten Bächen und zeichnete
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