Das achte Tor
der sichtbare Teil genüg-te bereits, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Diese Motive haben keine Ähnlichkeit mit denen von Uxmal oder Tikal«, bemerkte er.»Man könnte meinen …«
»Blödsinn!«, schnitt ihm Ernesto Sappati das Wort ab.
»Das ist eine Maya-Pyramide. Das erkennt man an der Architektur, an der Treppe, die wir gerade hinabsteigen, an ihrer Orientierung …«
»Genau, es gibt nur eine Treppe anstelle der vier traditionellen. Und außerdem habe ich nur sieben Treppenabsätze gezählt und nicht neun.«
»Die Treppenabsätze sind doch nicht von Bedeutung!«, sagte der Professor aufbrausend. »Leuchten Sie lieber mal in diesen Gang und folgen Sie mir!«
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Achselzuckend zog Emiliano die starke Taschenlampe aus seinem Rucksack und richtete den Schein ins Innere der Pyramide. Ein Schwarm Riesenfledermäuse schwirrte plötzlich aus der Dunkelheit an ihnen vorbei, streifte ihre Köpfe und verschwand in den Bäumen. Der Professor bedachte seinen Assistenten, der zusammengezuckt war, mit einem verächtlichen Blick und betrat dann den Gang.
Emiliano und João folgten ihm.
Zunächst war der Boden noch mit Moosen und Farnen bewachsen, doch mit abnehmendem Licht spürten sie bald nur noch Staub und ein Flechtwerk aus Kriechwurzeln unter ihren Sohlen. In die steinernen Wände waren komplexe geometrische Motive eingraviert, die Emiliano gerne aus der Nähe studiert hätte, aber Ernesto Sappati hatte anders entschieden. Beinahe im Laufschritt erreichte er die Halle, die sich am Ende des Ganges auftat. Vielleicht fand er dort eine Götterstatue der Maya oder sogar Quetzalcóatl – das würde ihm Ruhm und die Anerkennung seiner Kollegen bescheren.
Die Anerkennung, nach der er sich immer gesehnt hatte. Die Anerkennung, die ihm immer versagt war. Diese …
Er hielt inne.
Vielleicht war die Halle ja ein Tempel, aber es gab kein Bildnis, keinen Altar, keine Skulptur, die auf die Maya oder eine andere präkolumbianische Zivilisation hindeutete.
Dennoch war sie nicht leer. Ein Steinwürfel mit einer Kan-tenlänge von etwas über einem Meter und von furchterregender Schwärze besetzte das Zentrum.
Er schwebte zwischen Boden und Decke.
Eine Minute lang, die wie eine Ewigkeit schien, standen Ernesto Sappati und Emiliano verwundert und ungläubig davor, doch dann erlangten sie ihre Fassung wieder. Der 11
eine bückte sich, um die Unterseite des Würfels zu untersuchen, während der andere langsam um ihn herumging.
Nichts.
Keine Befestigung, keine Verbindung hielt diesen Stein-block. Er schwebte wie ein Ballon, obwohl seine Masse zweifelsohne mehrere Tonnen betragen musste.
»È magía, è a obra do diabo!«, rief João.
»Sei still!«, schimpfte Ernesto Sappati. »Es muss eine ra-tionale Erklärung für dieses Phänomen geben und ich werde sie finden.«
»È a obra do diabo«, wiederholte der Riese und wich einen Schritt zurück.
Ohne sich weiter um den Führer zu kümmern, näherte sich der Professor dem Würfel. Granit, das musste Granit sein oder eine Art Kalzitmarmor. Doch auch dies erklärte keineswegs, wieso dieser Teufelsfels in der Luft hing. Ernesto zögerte einen kurzen Augenblick und berührte dann mit der flachen Hand den Stein. Und zog sie schnell wieder zurück.
Im Dschungel herrschte eine drückende Hitze. Mindestens vierzig Grad, aber gefühlt waren es zehn Grad mehr, wegen der hohen Luftfeuchtigkeit.
Der Würfel hingegen war eiskalt.
»Hol die anderen!«, befahl der Professor João. »Sie sollen das Material herbringen.«
***
Eine Stunde später war der Saal von vier Scheinwerfern, einer in jeder Ecke, strahlend hell erleuchtet. Ernesto Sappati machte ungefähr fünfzig Fotos von dem Würfel, aus jeder Perspektive und mit allen möglichen Objektiven, aber er 12
hatte nicht die geringste Idee, wodurch dessen Schwerkraft aufgehoben wurde.
Die sechs brasilianischen Träger und João blieben am Eingang stehen und leierten unablässig Psalme, Gebete und Zaubersprüche herunter. Sie waren kreidebleich, und das Wort diabo – auf Brasilianisch: Teufel – war immer wieder zu hören. Nachdem Emiliano den Würfel skeptisch betrachtet hatte, begann er mit der Untersuchung einer Freske, die in eine der Mauern graviert war.
»Sehr interessant«, sagte er schließlich, »die Personen, die auf dieser Freske dargestellt werden, sind in sieben Gruppen angeordnet. Glauben Sie, dass es sich hierbei um sieben Stämme der legendären Nahuas handelt?«
Ernesto Sappati zuckte die
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