Das Achtsamkeits Buch
Wahrnehmung und Einfühlungsvermögen zu verfeinern. Ausdauertraining heißt, die Stabilität dieser Fähigkeiten zu üben. Intensivstes Ausdauertraining kann beispielsweise dazu führen, mehrere Stunden lang mit der Aufmerksamkeit bei einem Objekt verweilen zu können. Auf sportlicher Ebene würde dies etwa einem Europameisterschafts-Niveau entsprechen. Training der Flexibilität bedeutet, die Aufmerksamkeit auf das richten zu können, was wichtig ist, aber auch, mit dem Zoom-Objektiv der Aufmerksamkeit zwischen Makroperspektive und Panoramasicht variieren zu können.
Es ist klar, dass ein einmaliges Hanteltraining dem Muskel zwar einen Wachstumsanreiz bietet, dass es aber zur Kraft-Entwicklung viele Wiederholungen über einen längeren Zeitraum braucht. Man weiß auch, dass zur Erhaltung der Kraft weiteres Training nötig ist. Dies gilt auch für die Nervenverbindungen im Gehirn, die Sätze »cells which fire together, wire together« (Zellen, die gemeinsam feuern, verdrahten sich) und »use it or loose it« (verwende sie oder verliere sie) wurden schon erwähnt. So kann man in der Geistesschulung Analogien sehen zu regelmäßigen Besuchen im Fitnessstudio, zur Bewegung im Alltag und für spezielle Trainingslager: Formale Praxis, informelle Praxis und Retreats.
Entschluss zur Regelmäßigkeit
Wenn die Praxis der Achtsamkeit Auswirkungen haben soll, ist Regelmäßigkeit notwendig. Um dies zu erreichen, ist es sinnvoll, ganz bewusst einen klaren Entschluss zu fassen und sich wirklich Zeit dafür frei zu halten. Die Motivation für diesen Entschluss und dessen Umsetzung kann vielfältige Wurzeln haben. Veränderungsdruck entsteht durch Leiden und durch Krisen. Es kann aber auch ein Sog sein, eine Vision, die unserer Praxis Bedeutung, Wert und Wichtigkeit gibt und uns anzieht.
Dieser Entschluss betrifft drei Arten von Praxis: (1) Man kann sich für eine regelmäßige, formale Praxis entscheiden, beispielsweise sechs Mal in der Woche eine halbe Stunde zu sitzen und Atembeobachtung zu üben. (2) Man kann sich auch zu einer informellen Praxis entscheiden. Dies bedeutet, Tätigkeiten des Alltags bewusst achtsam auszuführen. Ein konkreter Entschluss könnte lauten: eine Woche lang achtsames morgendliches Zähneputzen oder Duschen. (3) Dieser Entschluss betrifft das Vorhaben, sich ein- oder zweimal im Jahr ein Wochenende, zehn Tage oder auch länger zu einem Retreat zurückzuziehen. Dabei widmet man sich an einem ruhigen Ort, etwa einem Kloster, unter Anleitung und zumeist in der Gruppe ausschließlich der Übung. Diese drei Arten der Praxis sind nicht alternativ zu sehen, sondern sie ergänzen und befruchten einander, indem sie unterschiedliche Lernerfahrungen bieten.
Spielerische Haltung
Bei aller Ernsthaftigkeit, Konsequenz und Disziplin im Entschluss zur Praxis und in ihrer täglichen Umsetzung, gilt es doch auch, den Gegenpol, das Spielerische und Leichte nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Übung von Achtsamkeit kann als ein lebenslanges Entwicklungs- und Forschungsprojekt gesehen werden, dem man mit Offenheit und Neugier, mit Anfängergeist und Humor entgegentritt.
Verbissenheit und Verkrampfung verhindern Achtsamkeit. Der Ausweg besteht darin, diese selbst zum Gegenstand der Beobachtung zu machen. Man bemerkt dann bald, wenn man mit einer Übung, einem Weg oder einem Ziel stark identifiziert ist. Der innere Beobachter sollte auch hier wieder wachsam sein. Disidentifikation ermöglicht, sich selbst auch bei einem verkrampften Ringen wohlwollend zu betrachten.
Übungen sollen auch nicht zum Selbstzweck werden. Sie sind eher mit einem Floß zu vergleichen, das ermöglicht, einen Fluss zu überqueren. Am anderen Ufer angelangt, lässtman das Floß zurück und geht weiter. Für die Überfahrt am nächsten Fluss bedarf es eines neuen Floßes.
Die Entwicklung von Achtsamkeit braucht Übung, viele Wiederholungen und damit Zeit. Es gilt, sich nicht mit überhöhten Erwartungen und Ansprüchen zu überfordern und damit Enttäuschungen vorzuprogrammieren. Wenn man bemerkt, dass man sich zu viel vorgenommen hat, ist es sinnvoll, sich auf das zu beschränken, was wirklich möglich ist. So ist es besser, sich fünf Minuten am Tag Zeit zu nehmen, als ganz darauf zu verzichten.
Meistens bedarf es – speziell am Beginn der Praxis – einer gewissen Überwindung und Anstrengung, sich zu den Übungen zu motivieren. Während der Übung ist allerdings eine zu große Anstrengung kontraproduktiv. Hier ist eine
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