Das Achtsamkeits Buch
nachfragt: »Was wäre in diesem Fall daran so schlimm?«, dann kommen oft Antworten, die auf einen verletzlichen Teil hindeuten: »Dann verlierst Du Dein Gesicht!«, oder »Dann nimmt Dich keiner mehr ernst!« Der innere Zustand, der das Gefühl kennt, nicht anerkannt und wertvoll zu sein, ist ein verletzlicher Teil. Er wird im inneren System oft so stark abgepuffert und in Sicherheit gebracht, dass man ihn, zumindest über lange Strecken, gar nicht wahrnimmt.
Diesen Zusammenhang von Beschützern und beschützten Teilen zu verstehen, hat für die Selbstführung einen hohen praktischen Wert: Wenn Zustände wie Ärger, Abwehr- oder Verteidigungshaltungen, Dominanz oder Rückzug einen Menschen vereinnahmen und beeinträchtigen, werden die dahinter liegenden Empfindsamkeiten meistens nicht bewusst erlebt. Die Wahrnehmungsfähigkeit für die feineren Signale im Inneren ist in solchen Momenten eher eingeschränkt und man ist auf das Reagieren nach Außen fokussiert. Im Wissen, dass heftige Beschützer-Reaktionen eigentlich immer durch die starken Gefühle von verletzlichen Teilen ausgelöst werden – oder dem Versuch sie zu vermeiden – kann man sichjedoch fragen, was im Inneren gerade bedroht zu sein scheint. Man kann darüber Aufschluss bekommen, wenn man sich mit der Frage nach Innen wendet, was genau emotional getroffen ist oder empfindsam reagiert.
Das folgende Beispiel stammt aus einem Coaching-Prozess mit einer jungen Frau und veranschaulicht das Zusammenwirken der Teile.
Frau Beate B., eine 32-jährige Programmiererin, ist seit ein paar Monaten Team-Leiterin. Mit ihrer Chefin, die zwei Jahre älter ist, gibt es Situationen, die Frau B. regelrecht »auf die Palme bringen«. Wenn die beiden über anstehende fachliche Entscheidungen sprechen, hat die Vorgesetzte etwas sehr Bestimmendes, manchmal auch Autoritäres. Obwohl Frau B. in ihrem Bereich sehr erfahren ist und einiges beizutragen hätte, entscheidet ihre Chefin, ohne sie zu befragen, und setzt sich mit ihren Ideen nicht wirklich auseinander. Letztlich fließt kaum etwas von Frau B. in den Entscheidungsprozess mit ein. In solchen Momenten reagiert Frau B. vorwurfsvoll. Die Kommentare gegenüber ihrer Vorgesetzten werden schnippisch und leicht abwertend. In ihrem Tonfall schwingt mit, dass sie nicht einverstanden ist und sich ärgert, nach dem Motto: »Sie sind ja die Chefin, Sie werden schon wissen, was dieses Vorgehen bringen soll.« Andererseits vertritt sie auch nicht klar und deutlich, was sie eigentlich will. Obwohl Frau B. weiß, dass ihre trotzig-abwertende Haltung nicht hilfreich ist, schafft sie es nicht, anders zu reagieren. In solchen Momenten hat dieser Gefühlszustand sie vollkommen im Griff.
Im Coaching entdeckt Frau B., dass es eine Seite gibt, die sich von ihrer Chefin in solchen Situationen abgewertet fühlt. Es ist ein Zustand, in dem sie sich wertlos fühlt und der einem Teil entspricht (von ihr als »Die Versagerin« benannt), gegen den sie sowieso immer ankämpft. Dieses verletzliche Gefühl ist jedoch so subtil, dass sie es im Gespräch mit der Vorgesetzten kaum wahrnehmen kann. Viel stärker ist jener Teil, der darum kämpft, gesehen zu werden: Eine Kämpferin, die sie »Amazone« nennt, weildiese sich der Chefin gegenüber überlegen fühlt und auf einem »hohen Ross« reitet.
Beim näheren Erforschen ihrer Reaktionen zeigte sich für Frau B. eine weitere Persönlichkeitsfacette, die entscheidenden Einfluss ausübt. Es gab in solchen Situationen mit der Chefin eine Stimme, die ihr innerlich sagte, dass das Ganze doch nicht so wichtig sei, sie nicht so unbequem sein solle und sie sich nicht so aufregen möge. Tatsächlich wurde der direkte Ausdruck von Ärger und Enttäuschung durch diese Aufforderungen verhindert. Frau B. gab diesem Anteil, der sich hier zu Wort meldete, den Namen »Die Nette«. Es wurde deutlich, dass die »Nette« Auseinandersetzungen und starke Gefühle scheut. Sie hat einfach Angst, dass ihre Chefin sie dann noch weniger mag und schätzt. Diese »Nette« dämpfte in den Situationen den starken Ärger und zügelte die abwertende »Amazone«. Da die Unterdrückung jedoch nur teilweise gelang, wehte in das Gespräch einiges von dem Ärger und der Abwertung mit hinein. Das mündete dann in dem trotzig-vorwurfsvoll-schnippischen Ausdruck, gepaart mit dem nachgiebigen, sich unterordnenden Verhalten gegenüber ihrer Chefin.
Als Frau B. auch noch den verletzlichen Zustand der »Versagerin« klarer zu fassen
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