Das Achtsamkeits Buch
wird spürbar, dass er damals nur noch die eine Strategie entwickeln konnte, sich abzuschirmen: eben durch diese »Wand«. Später hatte auch noch seine Homosexualität die gewaltige Scham vertieft.
Michael Z. ist dieses innere Erleben seiner Kindheit nicht bewusst. Er weiß nur, dass sein Stiefvater ein »Arschloch« gewesen ist und er oft Prügel bezogen hat. Mit der Großmutter war er bis zu ihrem Tod verfeindet und von ihr enterbt worden. Das tiefereErleben des Kindes kommt erst in der achtsamen Erkundung wieder zum Vorschein, und zwar so, dass es von Herrn Z. im ganzen Umfang empfunden und nachvollzogen werden kann.
So wird durch eine sorgsame und achtsame Erkundung innerer, hier kindlicher Prozesse ein Erleben wiedererweckt und nachempfunden, das einen großen Einfluss auf die Art gewonnen hatte, wie sich Herr Z. unbewusst durchs Leben bewegt. Sobald irgendetwas geschieht, was einer Kritik nahe kommt, stellt sich ganz von alleine und automatisch diese Wand ein und er verschwindet für andere Menschen als berührbares Wesen. In der Therapie wird mit Hilfe der Achtsamkeit das Erleben »aufgedeckt«, das ihn mit geformt hat.
Selbstakzeptanz und Integration
Kinder haben die Fähigkeit, unlösbare Situationen einfach aus dem Bewusstsein zu verbannen und sich mit schützendem Verhalten zu retten. So hatte der junge Michael Erniedrigung und Selbstverachtung hinter einer Wand aus Aggression und Unberührbarkeit vor sich selbst und Anderen verstecken können. Damit war leichter zu leben als mit der Scham und den zerstörerischen Gefühlen. Die achtsame Exploration, die sorgsame Erforschung immer tieferer innerer Zustände hatte sie wieder aufgedeckt.
Achtsamkeit führt aber auch zu einer akzeptierenden Haltung dem gegenüber, was zuvor verdammt, verbannt oder verleugnet wurde. Für Michael Z. war das die große Erleichterung: Einen Teil von sich entdeckt zu haben, dem er heute mit Freundlichkeit und Mitgefühl begegnen kann. Es war nicht mehr etwas Unsägliches, das zum Selbstschutz eine Existenz im Schatten des Bewusstseins führen muss.
Die auch vom Therapeuten vorgelebte Haltung der Akzeptanz, die ein Teil achtsamer Beobachtung ist, lässt schwierige Anteile des Ich wieder einen Platz im Leben finden.
Michael Z. berichtet mehrere Monate später, dass er einem alten Bekannten von seinem inneren Zustand und seinen Kindheitserlebnissen erzählt hat, als er gerade wieder diese Wand in sich spürte. Das hatte zu einer sehr tiefen Begegnung zwischen den beiden geführt, die er »wie Liebe« erlebte. Ein Erlebnis, das – wie er selbst mit strahlendem Lächeln bemerkt – so sehr im Gegensatz zu seinem alten Gefühl von Isolation und Einsamkeit steht.
Man könnte eine solche tief empfundene und freundlich erfahrene Selbstentdeckung durch Achtsamkeit als einen Weg der Integration beschreiben (Siegel, 2007). Wie in vielen Therapieformen beschrieben, finden dunkle, in die Schatten der Seele verbannte Anteile ihren Weg ans Licht. Sie werden nicht nur mental erfasst, sondern in aller Tiefe gespürt. So wird es möglich, sich mit ihnen anzufreunden. Das Beobachten und die Akzeptanz geben ihnen einen Platz im Ganzen. Sie wirken nicht mehr aus dem Dunkel, sondern stehen einer intelligenten, vielleicht sogar weisen Beziehungsgestaltung zur Verfügung.
Regression in Achtsamkeit
Gerade wenn man mit Achtsamkeit arbeitet, kommt es häufig vor, dass Klienten von tiefen, lange verborgenen Zuständen erfasst werden, wie es Michael Z. im obigen Beispiel passierte. Sie können sich dann etwa wie ein Kind fühlen, mit all den Einzelheiten, die diese Person als Kind tatsächlich gespürt hat. Dazu können Körperempfindungen, Geräusche, Gerüche, typische Gedanken, eine kindliche Sprache und oft kristallklare Erinnerungen gehören. In der Psychotherapie nennt man dieses Phänomen, das man als Aktivierung »kindhafter« Teile (siehe »Persönlichkeitsanteile – ein hilfreiches Modell der Innenwelt«. S. 133) verstehen kann, »Regression«. Es gibt immer wieder Experten, die vor Regression warnen, weil sie eine Reihe von Problemen mit sich bringen kann (Lempp, 2003; Geissler, 2006; Young, C., 2006): Etwa dass die Person sich mit diesemKindzustand »identifiziert«, ihn als eine andere Form des Schutzes gebraucht oder dass viele Wiederholungen dieser Erfahrungen die Person noch nachhaltiger mit problematischen Zuständen verschmelzen lassen (Morrell, 1991).
Doch gerade der innere Beobachter macht als
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