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Das Achtsamkeits Buch

Das Achtsamkeits Buch

Titel: Das Achtsamkeits Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Halko Weiss , Thomas Dietz
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mit Schutzmechanismen auszustatten. Zu diesen Voraussetzungen gehören Erwachsene, die den Kindern Sicherheit, ein Gefühl des Umsorgtseins, ein angemessenes Maß an Freiheit, Raum für Authentizität und Anerkennung des eigenen Wertes bieten können.
    Auf diesem Hintergrund kann man einen Teil des psychotherapeutischen Vorgehens als die Identifizierung nicht erfüllter Grundbedürfnisse bzw. versäumter Erfahrungen verstehen. Wenn ein Kind beispielsweise nie erleben konnte, wie es ist, sich sicher zu fühlen, überschattet das sein ganzes Leben und scheint schließlich auch noch in den Handlungen und Gefühlen des Erwachsenen durch.
    Es reicht aber nicht, dem nun erwachsen gewordenen Menschen zu erklären, dass er sich jetzt sicher fühlen kann. Denn die gefühlte »Unsicherheit« ist vor allem im emotionalen und somatischen Gedächtnis gespeichert, in dem, was heute »implizites« Gedächtnis genannt wird. Inhalte des impliziten Gedächtnisses sind unter normalen Umständen ziemlich veränderungsresistent (Roth, 2003). Jeder weiß: es ist leichter, etwas anderes zu denken, als etwas anderes zu fühlen.
    Wenn aber im Rahmen achtsamer Wiederbelebung früher Kindzustände die ursprünglichen neuronalen und somatischen Aktivierungen wieder vergegenwärtigt werden, dann stehen sie auch für neue Erfahrungen zur Verfügung (Nadel, 1994; Nader, 2003). In unserem Beispiel: ein sicherer Raum kann kreiert und dann erfahren werden, und zwar im aktivierten Kind-Zustand.
    Zum Verständnis psychischer Veränderungsprozesse tragen neue Erkenntnisse über komplexe adaptive Systeme (siehe Exkurs »Der Mensch als ein sich selbst organisierendes lebendiges System«, S. 133) und über die Neurobiologie des Lernens (siehe Glossar »Lernen durch Erfahrung«, S. 256) bei.
    Ein Beispiel aus einer Therapie mit Walter M., einem 32-jährigen »ewigen« Studenten der Philosophie:
     
    Herr M. erforscht und durchleidet im Laufe von etwa 25 Sitzungen den Mangel an Unterstützung in seinem Leben. Er verfällt wiederholt in depressive Zustände, die mit der Erinnerung verbunden sind, wie er als Sechsjähriger seine Mutter durch einen Autounfall verlor. Diese Erinnerungen sind mit noch weiter zurückliegenden Erinnerungen verschmolzen, die ebenfalls durch Gefühle der Einsamkeit und des Verlassenseins ausgelöst werden. Der Therapeut verbringt viel Zeit damit, die entsprechenden somatisch-affektiven Zustände zu erforschen und die Entwicklung einer Sprache zu unterstützen, die sein Lebensgefühl ausdrückt. Es wird klar, warum es Herrn M. nie gelungen war, sich auf eine warme, unterstützende Beziehung einzulassen. Der Therapeut berührt den Klienten bis zu diesem Zeitpunkt kaum. In der 25. Sitzung macht Herr M. wiederholt Andeutungen, dass er eine solche unterstützende »Welt« – wie er es nannte – wenigstens ein Mal in seinem Leben gerne kennen gelernt hätte.
    Der Therapeut bietet an, sich nebeneinander auf den Boden zu setzen und dass Herr M. sich an ihn anlehnen könne. Dies wird ausführlich besprochen und vorbereitet. Als sie es dann tatsächlich mit großer Bewusstheit und Langsamkeit (eben achtsam)ausprobieren, gibt es für Herrn M. zunächst eine lange Kette von Reaktionen, die es ihm unmöglich machen, irgendetwas anderes als Spannung und Angst zu empfinden. Dieses Erleben wird erforscht und besprochen.
    Als Herr M. nach mehreren Sitzungen auf dem Boden – ohne dass unmittelbar zuvor irgendetwas Ungewöhnliches passiert war – plötzlich nachgibt und sich leicht und ohne Widerstand anlehnen kann, bricht noch einmal eine Lawine heftiger Gefühle aus ihm hervor: Trauer, Erleichterung, Freude, Schmerz. Während mehrerer Sitzungen wird das Annehmen einer »Stütze« – so beschreibt es Herr M. – schließlich immer leichter und selbstverständlicher, was später dazu führt, dass er auch mit seiner Freundin heilsame Erfahrungen von Nähe und Unterstützung machen kann.
     
    Achtsamkeit erlaubt, sich solchen inneren Zuständen zu nähern, ohne von ihnen verschlungen zu werden, und sie als nur eine Realität des Ichs zu sehen und zu erleben. Gerade das macht ein kooperatives Vorgehen zwischen dem Therapeuten und dem beobachtenden Selbst des Klienten erst möglich. Der Therapeut bleibt Therapeut, selbst wenn er im therapeutischen Zusammenspiel umschriebene Rollen übernimmt, um einem Klienten im »Kind-Zustand« bestimmte Erfahrungen zu vermitteln. Achtsamkeit ermöglicht, Übertragungen und Identifikationen im Rahmen zu

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