Das Aktmodell
war mehr als glücklich, ihm da behilflich sein zu können.
Irgendetwas an dem Fremden ließ ihn nicht in Ruhe und brachte ihn zum Schwitzen.
Ärgerlich und gleichzeitig frustriert schloss Paul die Augen und versuchte zu verstehen, wieso der Mann eine solche Wirkung auf ihn hatte. Die Adern auf seiner Stirn schwollen an und pulsierten. Seine Nackenmuskeln verspannten sich schmerzhaft, aber er fand keine Antwort. Noch nicht.
Er schüttelte das ungute Gefühl ab. Warf seine Wut in den Nachtwind. Er betete, dass der aufkommende Nebel seine Sorgen verschlingen und ihn von den Schmerzen befreien möge, die in seinem Kopf pulsierten, auf sein Gehirn drückten, es zusammenquetschten, sodass es in eine winzige Schatulle passte und er damit nicht mehr denken konnte.
Seinen schwarzen Fellhut zog er tief ins Gesicht, sodass er sein schweißnasses Haar eng an den Nacken drückte. Das Cape wehte hinter ihm her, als er schnellen Schrittes den Boulevard entlanglief, begierig darauf, die Lichter, das Klappern, die vertrauten Geräusche seiner Straße um sich zu fühlen, die sein aufgewühltes Gehirn beruhigen würden. Er musste Autumn unbedingt eine Nachricht zukommen lassen, dass Madame Chapet ihr helfen würde.
“Ich bin doch unschuldig”, schwöre ich und strecke meine gefesselten Handgelenke nach vorn. Passiert das hier alles wirklich?
“Eine von den Ordnungshütern aufgegriffene Bürgerin muss ihre Unschuld
beweisen
, Mademoiselle”, rezitiert der Magistrat mit müder Stimme, die Augen auf den Stapel Papiere vor sich gerichtet. Seine Haltung gibt klar und deutlich zu verstehen, dass er von meiner Unschuldsbeteuerung nicht überrascht ist.
“Ich bin keine Prostituierte”, beharre ich. “Ihr müsst mir Glauben schenken. Ich bin … ich bin …”
Was soll ich sagen? Was kann ich sagen? Ich bin eine Frau aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert mit einem leidenschaftlichen Verlangen nach einem verschollenen Impressionisten?
“Nach dem
Code d’instruction criminelle
des Jahres 1808”, fährt der Magistrat trocken fort, als ob er mich nicht gehört hätte, “ist es die Aufgabe der Autoritäten, den Staat zu beschützen. Und der Staat sind die Menschen.”
Er schaut zu mir auf. Erstaunt zuckt er mit den Wimpern und vergisst das, was er gerade im Sinn gehabt hat. Er streicht sich über den Bart und nickt dem Schreiber zu, der mit einer Feder alles notiert, was zwischen uns gesprochen wird. Dann wird er wieder geschäftlich. “Ihr könnt die Untersuchung fortsetzen, Sergeant Guerlain.”
“
Bien, Monsieur le Magistrat.”
Der Sergeant lächelt, leckt erwartungsvoll seine Unterlippe und streckt dabei seine Zunge zwischen den rissigen Lippen hervor. Ich sehe, wie der Speichel aus seinem Mund tropft, als er sich mir zuwendet. Ich hasse diesen Mann und kann mich nur zu gut daran erinnern, wie er über meine Wangen strich, um die Menge zu provozieren. Und Paul. Irgendwie hatte der Künstler mich gefunden, aber es war zu spät.
Oh, wieso habe ich ihn nur verlassen? Welch kranke, verrückte Idee ließ mich glauben, dass ich in dieser Zeit allein überleben kann? Ich bin keine Dame des neunzehnten Jahrhunderts mit Korsett und Schnürstiefeln. Ich bin süchtig danach, Klingeltöne auf mein Handy herunterzuladen, ich fahre nur an Full-Service-Tankstellen, damit ich meine E-Mails checken kann, während der Tankwart seinen Job macht, und ich google alles, von den neuesten Grundstücksverkäufen bis zu den Sonderverkäufen bei
Bloomingdales.
Ich gehöre nicht hierher. Und ich habe schreckliche Angst.
Wer wird mich retten?
Ich bin verrückt zu glauben, dass irgendetwas anderes als meine eigene Cleverness mich hier herausholen könnte. Der Sergeant umkreist mich, um mich besser betrachten zu können. Ich trete einen Schritt zurück. Der Blick in seinen Augen gibt mir klar zu verstehen, wie sehr er seine Arbeit gerade genießt.
Als ich mich gegen das wappnen will, was unweigerlich kommen wird, beginnt der Raum sich zu drehen, und das Gesicht des Sergeants zeichnet sich verzerrt vor mir ab wie ein Clown in einem Spiegelkabinett. Schwere Augenlider zerschneiden seinen harten Blick in zwei Halbmonde. Die Augen eines Toten brennen sich in meine Seele. Der Effekt verursacht mir eine Gänsehaut.
Ich lasse es nicht zu, dass er mich berührt, schwöre ich lautlos und drehe mich weg.
“Ich bin amerikanische Staatsbürgerin, Monsieur.” Mit meinen gefesselten Fäusten schlage ich auf den hölzernen Tisch. “Ich bestehe darauf, mit
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