Das Aktmodell
Träumen und Verzweiflung. Leblose Augen. Grelle, rote Münder. Verschwendete Jugend. Aber nicht die Rothaarige.
Es liegt eine Verletzlichkeit in ihren Augen, die meine Seele berührt. Warme, flackernde Funken von Grün, die von einem Geheimnis zeugen, das sie tief in sich vergraben hat und das sie mit mir teilen möchte, aber nicht kann. Ich werde sie nicht enttäuschen.
Nach vielem Kopfzerbrechen über seine Entscheidung, alle seine Bilder zu verkaufen und jeden Boxkampf anzunehmen, der ihm angeboten wurde, nur um ihre Freiheit zurückzukaufen, hatte er
Le Café de la Paix
kurz vor der grünen Stunde verlassen – der kurzen Zeit zwischen fünf und sechs Uhr am Nachmittag, wenn er seinen Lieblingsaperitif, den Absinth, genoss und sich mit seinen Künstlerkollegen unterhielt –, um das Mädchen zu retten, das seine Seele besaß; seinen Willen gestohlen hatte; ihn vor Verlangen, zu malen, so verrückt machte, dass er sich frustriert auf kein anderes Modell mehr konzentrieren konnte. Auf kein anderes Gesicht bis auf ihres.
Er war außer sich vor Zorn gewesen, als er auf dem Polizeihauptquartier Nachforschungen angestellt und herausgefunden hatte, dass Autumn auf unbestimmte Zeit in dem Gefängnis St. Lazare eingesperrt bleiben sollte, bis über ihre Strafe entschieden war. Ein Schachzug des Magistrats, wie er wusste, um die Frauen von der Straße zu halten und die eigenen Taschen zu füllen, denn die Gemeindeverwaltung bezahlte die Polizei für jede Festnahme.
Paul klopfte mit seinem Spazierstock einen unregelmäßigen Rhythmus gegen seinen Schuh und mied den Blick der gerissenen Madame Chapet. Sie erhole sich gerade von einem leichten Ohnmachtsanfall und könne ihm nur ein paar Minuten ihrer kostbaren Zeit widmen, behauptete sie, und das auch nur um ihrer alten Freundschaft willen.
Paul runzelte die Stirn. Diese alte Füchsin stellte ihre Fallen sehr geschickt auf, wenn auch nicht sonderlich stilvoll. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie ihre Hunde mit kleinen Bissen von Hühnchen und Cremetörtchen fütterte und sie dann in einer Art liebkoste, die auf die irdischen Freuden im oberen Stockwerk hinwiesen.
“Wieso seid Ihr so daran interessiert, das Mädchen aus St. Lazare herauszuholen, Monsieur Borquet?”, fragte Madame Chapet.
“Ich möchte sie malen, Madame.”
“Malen? Ihr könnt mich nicht hinters Licht führen, Monsieur. Ihr seid in dieses Mädchen verliebt.”
“Aber nicht doch, Madame.”
Denn es stimmte nicht. Er betete sie an, aber er durfte sie nicht lieben.
“Ihr sagt, das Mädchen sei hübscher als alle anderen Frauen, die für mich arbeiten?”, fragte sie.
“
Mais oui.
Auf alle Fälle, Madame. Sie hat einen Körper, der alle anderen Kreaturen in den Schatten stellt. Sie ist eine Göttin, mit einer Haut so rein, dass es über Perfektion weit hinausgeht. Ihr Gesicht fesselt die Seele eines Mannes, wenn sie ihn mit ihren großen grünen Augen ansieht.”
Paul beobachtete, wie die Bodellbesitzerin erst den weißen Hund streichelte und dann den schwarzen. Sie umarmte die Hunde, vergrub sie in ihrem Schoß und überhäufte sie mit Küssen und anzüglichen Liebkosungen auf die hängenden Ohren, ihre kalten, hässlichen Nasen, ihre winzigen zitternden pinkfarbenen Bäuche. Es ekelte ihn an.
“Wenn das Mädchen wirklich so schön ist, Madame Chapet”, sagte eine männliche Stimme mit britischem Akzent hinter ihm, “dann müsst Ihr
mir
erlauben, dass ich der unglücklichen Dame zu Hilfe eile.”
Paul drehte sich um und schaute den Gentleman im modischen Anzug finster an. Mit zwei Damen im Arm kam er langsam die Treppe hinunter. Etwas an ihm erweckte Pauls Neugierde.
“Ah, Lord Bingham, wie nett von Euch, dass Ihr uns Eure Hilfe anbietet”, säuselte Madame Chapet mit rauchiger Stimme.
“Das ist doch das Mindeste, was ich für Euch tun kann, Madame, als Gegenleistung für solch einen schönen Nachmittag”, erwiderte der Engländer in schlechtem Französisch. Dabei kniff er einem Mädchen in den Po, bis es kicherte.
“Diese junge Dame ist sehr geschickt darin, ihre Zunge in die Pflaume ihrer Gespielin zu stecken, während sie ihr niedliches Hinterteil emporreckt, damit ich sie von hinten nehmen kann. Wirklich außerordentlich nett.”
“
C’est mon plaisir
, Lord Bingham. Eure Großzügigkeit erleichtert es mir, Euch dieses Mädchen für Eure Vergnügungen zur Verfügung zu stellen”, flirtete Madame Chapet und steckte ihre fetten Finger in Sprudelwasser, das die Hunde
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