Das Aktmodell
verrückten Frauen abzugeben, die sich gegenseitig an den Haaren ziehen oder ins Gesicht spucken?
“Ihr meint Monsieur le Docteur Gastonier?”, fragt eine Frau mit gefärbten Haaren und dickem Bauch.
Die Frau mit dem Tuch nickt nun. “Ja, einmal im Monat kommt er nach St. Lazare, um die Gefangenen zu untersuchen.”
Ein lautes Stöhnen geht durch die dampfende Waschküche.
“Aus welchem Grund sollen die Frauen denn untersucht werden?”, frage ich. Geschlechtskrankheiten? Bei der mangelnden Hygiene hier würde mich das nicht wundern. Die anderen sehen mich an und blinzeln überrascht. Die jüngeren Frauen kichern nervös.
“Das wirst du schon noch herausfinden,
ma belle”
, sagt eine Gefangene. “Im letzten Monat hat ein Mädchen es vorgezogen, lieber Selbstmord zu begehen, als sich von den Händen des
bon docteur
berühren zu lassen.”
“
Zut alors
, dieser Bastard hat mir mit seiner kalten, scharfen Pinzette fast die Eingeweide herausgezogen. Er sieht so schlecht, dass er fast sein Gesicht in meinen Hintern gesteckt hat.”
“Seid still,
mes filles!”
, befiehlt die Wärterin mit strenger Stimme. Die Frauen verfallen in ein beunruhigendes Schweigen, schauen sich verstohlen an und machen sich heimlich gegenseitig darauf aufmerksam, als die Tür geöffnet wird und kleine Dampfwolken in den Korridor entweichen.
“Hier ist noch eine Gefangene für dich”, kündigt eine weitere Wärterin an, bevor sie die Tür wieder hinter sich zuschlägt. Die Blonde schaut alle Gefangenen genau an, bis ihre Augen an mir hängen bleiben.
Lillie.
Ich halte die Handtücher so fest, dass ich die dünnen Fasern unter meinen Fingern reißen spüre. Ich sehe, wie Lillie die Wärterin ansieht und ihr dann etwas Unverständliches zuraunt. Es ist bestimmt kein Zufall, dass sie jetzt hier ist. Ich wünschte, der aufgeheizte Raum würde sie verschlucken und in einem der mit kochendem Wasser gefüllten Bottiche ertränken.
Mit zitternden Händen taste ich nach der in meinem Mieder versteckten Nachricht. Ich fühle, wie mein Herz schlägt und mein Puls außer Kontrolle gerät.
Lillie ist hier, um mich zu töten.
Was zum Teufel soll ich denn jetzt machen?
12. KAPITEL
E s ist nicht so, dass ich bleiben und gegen Lillie kämpfen möchte. Aber ich habe keine andere Wahl. Selbst durch den Dampf kann ich sehen, dass sie jede meiner Bewegungen verfolgt und mich keine Sekunde aus den wachsamen Augen lässt. Sie verspottet mich, versucht mich zu zermürben und mich in einem unbeobachteten Moment zu erwischen.
Du wollest jung und schön sein, Mädchen. Jetzt sieh zu, wie du damit fertig wirst.
Ich sehe den anderen Gefangenen zu, wie sie waschen, zusammenfalten, die feuchten Tücher auf hölzernen Stangen aufhängen. Überhaupt nicht wissen, was hier gerade passiert. Die Frauen huschen umher, ihre nervöse Energie verwandelt den dichten Dampf in papierdünne Wassertropfen. Aus den Ecken dringt geflüstertes Kichern. Es spricht sich schnell herum, dass der Doktor heute kommt. Mehr als eine Frau hat eine Geschichte zu erzählen, wie der Doktor sie auf den kalten Untersuchungstisch legte, ihre Beine weit spreizte, dann mit seiner Pinzette in sie eindrang und dabei ihre Brüste befühlte.
Sogar die Wärterinnen scheinen heute ein wenig unruhig zu sein. Sie sind ja gezwungen, sich mit den launischen Frauen auseinanderzusetzen, die, zum Großteil positiv, auf Geschlechtskrankheiten getestet werden. Ich hatte recht.
Und jetzt? Frage ich mich. Nichts. Keine Medikamente, um ihnen zu helfen. Nur ein längerer Aufenthalt in St. Lazare, um sie zu “heilen”. In den meisten Fällen bedeutete das den Tod.
Was passiert gerade in meinem erotischen Märchen? Irgendwie entgleitet es mir in einen Roman ohne Happy End.
“Mademoiselle Pierusse”, liest die Wärterin von ihrer Liste. “Mademoiselle Rolande, Mademoiselle de Fleur …”
Ein lautes Stöhnen geht durch den Raum. Niemand muss das Eintreffen des
bon docteur
ankündigen. Die Wärterin liest weitere Namen vor, und die Frauen verlassen das Zimmer. Einige benetzen ihre Lippen und ordnen sich noch einmal die Haare. Die meisten haben einen unglücklichen Gesichtsausdruck. Einige ergeben sich in ihr Schicksal, andere wirken kämpferisch. Ein junges Mädchen muss sogar hinausgezerrt werden und wehrt sich mit Händen und Füßen.
Ich falte und entfalte die gleichen Handtücher mehrere Male und bin froh, dass mein Name bisher nicht gefallen ist. Meine Finger zittern, und ich beiße mir
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