Das Aktmodell
besticken, Boden und Wände des Klosters schrubben, in der Gefängnisküche kochen und künstliche Blumen herstellen. Wir müssen exakt das denken und tun, was uns aufgetragen wird.
Übernächtigt und mit dunklen Ringen unter den Augen arbeite ich in der Waschküche, falte Handtücher und staple sie ordentlich übereinander. Der heiße Dampf hängt schwer in der Luft und macht es mir fast unmöglich, zu atmen. Wie halten die anderen das aus? Die Frauen haben sich unter der spärlichen Lichtquelle zusammengedrängt, sie falten Bettlaken und Handtücher, die verschmutzten Tücher werden in großen Bottichen gewaschen. Der Dampf rötet ihre Gesichter, und sie sehen aus wie glänzende Porzellanpuppen.
Der Dampf ist so dicht, dass heute Morgen eine Gefangene in Ohnmacht gefallen ist. Ihr Gesicht werde ich niemals vergessen. Zunächst war sie sehr blass, und dann veränderte sich ihre Gesichtsfarbe in ein schmutziges Grau, ähnlich wie die Tücher im Waschbottich. Aus den Augenwinkeln habe ich beobachtet, wie die Wärterinnen die unglückliche Frau an den Armen herauszerren und in den Schlafsaal zurückbringen.
Mit geschlossenen Augen habe ich für sie gebetet. Es ist unter den Gefangenen allgemein bekannt, dass die Arme von den Wärterinnen geschlagen werden wird. Leichenfledderer, so nennen wir die Wärterinnen. Kein Wunder. Eine körperliche Bestrafung kann jeder Frau hier zu jeder Zeit passieren. Ein Grund dafür findet sich immer, und es reicht schon aus, die Gefangenenkappe ein wenig kokett seitlich aufzusetzen.
“Zurück an die Arbeit,
mes filles”
, ruft eine Wärterin und wirbelt mit ihrem Schlagstock in der Luft herum, als sie in der Waschküche herumgeht. “Oder Ihr werdet alle eine Runde im Hof drehen.”
Ich habe meine Kappe weit hinunter ins Gesicht gezogen.
Eine Runde im Hof drehen
ist die Ankündigung einer demütigenden Foltermethode, bei der die Hände und der Kopf der Frauen in hölzerne Schraubstöcke eingespannt werden. Ich zittere jedes Mal, wenn ich an einer Gefangenen vorbeilaufen muss, die auf diese Art dafür bezahlt, etwas Brot gestohlen oder einen Liebesbrief weitergereicht zu haben.
Ich nehme einen Stapel zusammengefalteter Handtücher und bemühe mich, beschäftigt zu wirken. Auf Zehenspitzen strecke ich mich zum obersten Regal, um die Handtücher dort einzuordnen. Mein Blick fällt auf ein Stück Papier, das zwischen den Handtüchern steckt.
Eine Nachricht von Paul? Ich werfe einen Blick über die Schulter. Die Wärterin ist gerade damit beschäftigt, sich mit einem trockenen Handtuch den Schweiß von der Stirn zu wischen. Auch die anderen Gefangenen schenken mir keine Aufmerksamkeit und zerren stattdessen die nassen Tücher aus den Bottichen oder legen die trockenen zusammen. Ich nehme den Zettel und falte ihn auseinander.
“Oh!” Ich unterdrücke einen Schrei, bedecke meinen Mund mit einer Hand. Ich schaue auf die schlecht gezeichnete Strichfigur auf dem Zettel, deren Herz mit einem Messer durchbohrt wird. Das Haar der Figur ist mit getrocknetem Blut gemalt. “Lillie”, flüstere ich, zerknülle das Papier in meiner Hand und stecke es in den Ausschnitt meines Mieders. Wie ist es zwischen die Handtücher gelangt?
Nervös schaue ich mich um, falte die Handtücher, erst einmal und dann ein zweites Mal. Was mache ich? Ich habe keine Ahnung. Ich muss in Bewegung bleiben. Alles, was mich von dieser schrecklichen Zeichnung ablenkt, ist gut für mich.
Mein Gehirn läuft auf Hochtouren, die Mundwinkel zittern, und der Dampf der Waschküche umwabert mich. Ich habe keine Zweifel daran, dass Lillie mich jederzeit und überall angreifen kann.
“Ich frage mich, wieso Lucie heute Morgen in Ohnmacht gefallen ist”, spricht mich die Frau neben mir an und faltet die Laken in ordentliche Quadrate. Ihre Stimme holt mich aus meinen Tagträumen, aber die Angst bleibt.
“Vielleicht ist sie schwanger”, sagt eine zweite Frau. Ein fröhliches Stimmengewirr bricht unter den Gefangenen aus. Eine Frau mit einem Baby ist das Objekt liebevollen Interesses unter den weiblichen Insassen, die gezwungen waren, ihre eigenen Kinder auf der Straße zurückzulassen.
“
Mais non
, Lucie hat das Gerücht gehört”, flüstert eine Gefangene hinter einem vorgehaltenen Tuch, um nicht von den Wärterinnen gehört zu werden.
“Gerücht? Was für ein Gerücht?”, fragt eine andere Frau.
“Er kommt heute.”
Ich beuge mich interessiert nach vorn. Welcher Mann ist mutig genug, um sich hier mit diesen
Weitere Kostenlose Bücher