Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
übernehme ich«, meldete sich Lagerfeld sofort. Am Rande des Epitaphs konnte er sich festhalten und zog sich hoch. Oben angelangt, begann er das Skelett zu untersuchen, war aber erfolglos.
»Beeilen Sie sich!«, rief ihm Dr. Newman zu. »Es ist gleich dunkel.«
In der Tat war in der Kirche fast nichts mehr zu sehen. Lagerfeld fingerte an dem Relief entlang, bis er oberhalb des Skeletts auf eine Mitra aus Alabaster stieß. Er griff von oben hinein, doch umsonst. Dann fasste er nach hinten in einen schmalen Spalt zwischen Mütze und Epitaph und erstarrte.
»Hier ist etwas!«, rief er aufgeregt und griff zu. Mit der freien Hand zog er ein kleines Bündel hinter der Mitra hervor, das in Papier eingewickelt und mit einer Schnur zugeknotet war. Alle starrten ungläubig das kleine Paket an. Das Tagebuch von Clemens war gefunden. Wegen dieses kleinen Bündels Papier hatten also so viele Menschen sterben müssen. Fast ehrfürchtig steckte es Lagerfeld in seine Jackentasche und kletterte wieder zurück.
»So, und jetzt nichts wie raus hier«, sprach Newman aus, was alle dachten.
Nach einigen Schritten hielt Haderlein inne und bedeutete den anderen wortlos, stehen zu bleiben.
Aus dem Dunkel des Eingangsbereiches war ein Mann ins letzte Dämmerlicht getreten, das noch durch die Kirchenfenster nach innen fiel. Der Mann in der hellen Leinenkleidung und mit dem strohblonden, kurzen Haar hielt eine Waffe in der Hand, mit der er ruhig auf sie zielte. »Ende gut, alles gut, nicht wahr?«, sagte er mit leicht schief gelegtem Kopf.
»Nikolai«, erkannte ihn Haderlein. »Nikolai Dassajew.«
Er war keineswegs verblüfft, dass man seine Identität herausgefunden hatte. Nach dem Debakel im Nürnberger Löwensaal hatte er damit gerechnet. Doch jetzt war es ihm egal. Sein Auftrag stand kurz vor dem Ende. Er ging noch drei Schritte auf die Gruppe zu, die wie erstarrt in der Mitte des Hauptgangs stand. Nur wenige Meter von ihm entfernt.
»Das Buch«, sagte Nikolai und streckte fordernd die Hand aus.
»Was für ein Buch?«, versuchte sich Lagerfeld hilflos in Ablenkung.
»Rede keinen Mist und gib es ihm«, wies ihn Haderlein zurecht. »Bloß keine Heldentaten, bitte.«
Aus den kalten Augen des Profikillers sprach Ungeduld, und Haderlein wollte nicht noch ein weiteres Leben riskieren. Also zog Lagerfeld das Buch aus seiner Jacke und machte einen Schritt auf Nikolai zu.
»Halt«, hallte es durch das Kirchenschiff. »Dr. Newman soll es mir bringen.«
Alle blickten den Biologen an. Wer nun aber befürchtete, dass diesem jetzt endgültig die Nerven streiken und ihn in eine gnädige Ohnmacht entlassen würden, der wurde eines Besseren belehrt. Newman hatte es richtiggehend satt, sich vor Angst in die Hosen zu scheißen, und er hatte es auch satt, schon wieder davonzulaufen. Außerdem hatte er noch den Rest der Biere intus, die er nicht erbrochen hatte, was ihm zu einer entspannteren Einstellung verhalf.
»Na klar, wer denn sonst?«, sagte er zynisch und nahm Lagerfeld entschlossen das Buch aus der Hand. Selbstbewusst ging er auf Nikolai zu, bis dessen kühler Pistolenlauf seine Stirn berührte. Der Killer nahm ihm das Buch ab und verbarg es sofort in der Innentasche seines Leinensakkos. Dann funkelten seine Augen hasserfüllt in die seines anscheinend furchtlosen Gegenübers.
»Das war schon eine coole Nummer, die Sie da im Löwensaal abgezogen haben«, sagte er zu Newman. »Deshalb werde ich das mal sportlich sehen und Sie nicht erschießen.«
Newman, der mit seinem Leben eigentlich schon abgeschlossen hatte, blickte erstaunt auf.
»Doch dafür musst du mir schon einen Gefallen tun, lieber Doktor. Ihr da, da rüber!«, kommandierte er die anderen in den großen Beichtstuhl auf der rechten Seite.
»Handschellen«, forderte er Newman auf und deutete auf die Kommissare in der engen Kammer. Der Doktor nahm Lagerfeld und Haderlein die Handschellen ab und schloss dann den Beichtstuhl auf Nikolais Anweisung hin, der wiederum die Handschellen so an der Tür befestigte, dass Haderlein, Lagerfeld und der Professor nicht an das Schloss herankamen und eingesperrt waren. Sicherheitshalber rüttelte Nikolai noch einmal an der Tür, aber das eichene Gestühl hielt.
»Das war’s dann«, sagte er zu Max Newman und schlug ihm den Knauf seiner Waffe so kurz und heftig auf den Kopf, dass er niederging. Er lächelte den Eingeschlossenen noch kurz zu und verschwand anschließend im Dunkel des Eingangsbereichs. Kurz darauf hörte man die schwere
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