Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
Uhr an seiner Lieblingsstelle am Main. So viel hatte Lagerfeld immerhin von der zugeknöpften Gesellschaft am Eingang des Campingplatzes herausgefunden. Aber irgendwie sprachen die alle einen ziemlich strengen Dialekt. Nürnberger waren das auf jeden Fall nicht, da war er sich sicher. War ja auch egal. Fest stand, dass sie nicht erfreut über sein Auftauchen gewesen waren.
Lagerfeld kannte die Sorte von Mensch gut. Sein Onkel hatte früher auch geangelt und ihn als Kind häufig mitgenommen. Die anfängliche Begeisterung war meist nach Tagen ohne Fang verflogen, doch er wusste immer noch, dass es nicht gut war, einen angelnden Mitmenschen einfach mit seiner Anwesenheit zu überfallen. Der Angler an sich war lieber allein mit sich, seinem Wasser und den Fischen. Also beschloss der Kommissar, vorsichtig zu sein.
Die letzten hundert Meter musste er sich allein durch das Gebüsch des dicht bewachsenen Mainufers schlagen, weil der Überlebenskämpfer an seiner Seite wortlos in eine Richtung gezeigt und sich dann umgedreht und getrollt hatte.
Vorsichtig bog er die Zweige der Haselnussbüsche mit beiden Händen auseinander. Vielleicht konnte er ja etwas erkennen. Unter einer überhängenden Erle sah er einen Pick-up, auf dessen heruntergeklappter Ladekante ein dicklicher Mann mit Gummistiefeln hockte. Zu seinen Füßen lag eine Art Hund. Irgendeine wilde Mischung. Seine Erscheinung war genauso obskur wie die seines Herrchens. Mit den in alle Richtungen abstehenden Haaren wirkte das Vieh so adrett wie ein explodierter Handbesen. Rings um die beiden herum war eine Batterie von mindestens elf Angelruten aufgebaut, jede auf eine Art Erdgabel aufgebockt. Lagerfeld betrachtete das Bild, das sich ihm bot, dachte nach und entschied, dass es besser sei, sich aus einiger Entfernung anzumelden.
Er räusperte sich. Keine Reaktion. Er räusperte sich nochmals, diesmal deutlich lauter. Wieder nichts. Das war doch unmöglich! Vielleicht schlief Graetzke ja und träumte von zehn Meter langen Hechten? Aber irgendwann war es auch mit Lagerfelds Vorsicht vorbei. Schließlich tickte seine Uhr unerbittlich, und er hatte nicht vor, wegen so einem Anglerheini die Nacht mit menschlichen Innereien verbringen zu müssen.
»Hubertus Graetzke?«, knallte er seine Frage nun unerbittlich in die verträumte Stimmung des Mainufers.
Schlagartig flog die Hand des dicklichen Mannes in abwehrender Geste nach oben, ansonsten bewegte er sich nicht. Die Promenadenmischung sprang auf und knurrte Lagerfeld an.
»Ruhe«, zischte Hubertus Graetzke in drohendem Ton Richtung Wasserfläche. Sofort duckte sich der Köter und winselte erbärmlich. »Beim Angeln wird nichts geredet. Und das gilt für Männer wie für Frauen. Besonders die Weiber müssen dabei ja immer reden und Geräusche machen.« Der Vierbeiner bellte zustimmend, bekam aber selbst dafür noch einen Tritt in den Allerwertesten verpasst.
»Äh, ja, das mag schon sein«, räusperte sich Lagerfeld nochmals und beäugte den Hund jetzt mitleidig. »Ich wollte wirklich nicht …«
»Wissen Sie, ich kenne das von meiner Frau«, fuhr Graetzke unbeeindruckt fort. »Die muss auch dauernd reden. Gut, ich hab einsehen müssen, dass man bei seiner Frau Geräusche akzeptieren muss, aber nicht beim Angeln! Aber das wird meine Frau nie kapieren. Sie wird nie eine Beziehung zum Angeln entwickeln.«
Lagerfeld hatte keine Ahnung, was er getan hatte, um dieses Gesprächsthema zu verdienen, aber bitte. Wahrscheinlich war es das Klügste, sich erst mal auf das Spiel einzulassen und ihm nicht zu widersprechen.
»Was ist denn mit Ihrer Frau?«, heuchelte er Interesse, konnte sich aber nicht verkneifen, wieder auf seine Uhr zu schauen.
Doch die Frage war ein Fehler gewesen. Binnen Sekunden verkrampfte sich Graetzkes Körper. »Die will immer bloß über unsere Beziehung reden. Aber eigentlich brauch ich doch gar keine Beziehung. Ich hab ja einen Angelschein. Eine Beziehung zu so einem Fisch ist zum Beispiel viel einfacher als die mit einer Frau. Zum Fisch ist das Verhältnis ganz klar definiert. Mit so einem Fisch, mit dem kann ich umgehen – und der macht vor allem auch keine Geräusche.«
Lagerfeld kam die Galle hoch. Der Typ war ja vollkommen durchgeknallt. Aber er hatte keine Möglichkeit, den Angler zu unterbrechen, denn Graetzke ereiferte sich weiter. »So ein Fisch, der braucht ja auch fast nix. Keine Klamotten. Keinen Friseur, und der friert auch nicht dauernd. Nicht mal im Winter. Gut, es soll ja auch
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