Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
die Ecke schleuderte.
»Hast du etwas gefunden?«, fragte er Nikolai auf Russisch.
»Njet«, entgegnete dieser nüchtern. Er hatte auch nicht wirklich erwartet, etwas zu finden. Schließlich befanden sie sich ja auch erst am Anfang. Man konnte schlichtweg nicht erwarten, unter dem ersten Strauch das goldene Osterei zu finden, wenn man einen ganzen Wald zum Suchen vor sich hatte. Da halfen nur Geduld und Gründlichkeit. Nikolai kannte sich aus in solchen Dingen. Sie würden finden, was sie suchten – früher oder später. Daran gab es keinen Zweifel.
Aber wahrscheinlich nicht in dieser Wohnung. Es half alles nichts, sie mussten sich einen Stock tiefer begeben, wo Rast früher gelebt hatte, so hatte Nikolai es in seinen Anweisungen gelesen. Die alleinstehende Frau würde kein Hindernis für sie darstellen. Nikolai erhob sich, gab Igor ein stummes Zeichen mit dem Kopf und deutete mit dem Zeigefinger auf den Fußboden.
Igor verstand. Er steckte sein Messer weg und grinste.
*
Haderlein grübelte noch etwas über den Terminus »Kronschutzzeugenprozess« nach, ließ es dann aber schnell bleiben. Fidibus’ Wortschöpfungen entbehrten meistens jeder grammatischen Grundlage.
Als sie aus der Eingangstür der Dienststelle traten, war es, als hätte der Regisseur eines riesigen Puppentheaters auf den Startknopf gedrückt. Menschen sprangen auf, Kameras wurden geschwenkt und in Betrieb gesetzt, Mikrofone schossen wie Pilze aus dem Boden, und es flammten so viele Scheinwerfer auf, als hätten sie die Aufgabe, die Sonne zu ersetzen.
Aller Augen richteten sich auf Suckfüll. Er war einen ganzen Kopf größer als Haderlein und gleich an die Kameras herangetreten. Um Fragen zuvorzukommen, machte er sofort klar, dass seit dem Morgen noch keine Fakten dazugekommen seien und er nichts Neues berichten könne. Die Polizei sei noch dabei, Hinweise zu sammeln und die Lage zu sondieren. Konkrete Verdachtsmomente gegen Personen gebe es keine.
Schön gelogen, grinste Haderlein. Nervtöter abwimmeln, das konnte er, sein Chef. Hoffentlich vergriff er sich vor der Öffentlichkeit nicht wieder an einem schönen deutschen Sprichwort.
Es gab noch die eine oder andere Frage zum gleichen Thema – immer mit dem gleichen Ziel, aber mal von der Seite, von oben oder von unten formuliert. Doch an Fidibus bissen sich alle die Zähne aus. Es machte ihm nichts aus, ein und dasselbe Statement zum fünfundzwanzigsten Mal zu wiederholen. Im Gegenteil, er hatte Spaß daran. Das Spiel lief so lange ununterbrochen weiter, bis einer der Reporter eine Frage an Haderlein stellen wollte, den er noch von seiner kurzen Stellungnahme am Morgen erkannte.
»Herr Haderlein, ich wollte Sie fragen …«, begann er, dann erst sah er Riemenschneider, »äh, was ist das für ein Schwein?«
Wie auf Kommando fuhren alle Mikrofone herum, Stative wurden geschwenkt, Positionen verändert und Kameras neu ausgerichtet. In den hinteren Reihen kam es zu ersten Rangeleien.
»Das ist Riemenschneider«, bemerkte Haderlein lakonisch und strich seinem Ferkel liebevoll über den Kopf.
»Hat dieses Schwein irgendetwas mit den Mordfällen zu tun?«, wollte ein Korrespondent von ProSieben wissen. Aller Augen klebten am Mund von Haderlein.
»Nein«, stellte der Hauptkommissar fest. »Riemenschneider ist ein Überbleibsel einer früheren Ermittlung. Leider hat sie ihre Mutter verloren und ist nun das Maskottchen der Dienststelle. Wir haben beschlossen, dem armen Schwein hier ein Zuhause zu geben.«
Das war’s. Damit waren Fidibus und die drei Mordopfer vergessen. Völlig allein stand der Dienststellenleiter am Mikrofon. Wo sich Sekunden zuvor noch Trauben von Journalisten gedrängt hatten, um seinen Worten zu lauschen, herrschte jetzt gähnende Leere. Wäre neben Fidibus in diesem Moment ein UFO gelandet und die Insassen hätten nach dem Weg zur nächsten Tankstelle gefragt, niemanden hätte es interessiert. Riemenschneider war plötzlich wichtiger als alle Mordfälle dieser Welt. Haderlein hatte mit seiner Vermutung richtiger gelegen, als Fidibus lieb war.
»Ist die aber süß«, flötete eine Korrespondentin vom Bayerischen Fernsehen namens Dagmar Thiel. Da die Sympathie auf Gegenseitigkeit beruhte, leckte Riemenschneider ihr gleich die Hand. »Wie kommt denn ein weibliches Ferkel zu einem so männlichen Namen?«, erkundigte sie sich bei Haderlein und lachte, als Riemenschneider anfing, ihr die ganze Hand abzulutschen.
»Das ist eine lange Geschichte«, wiegelte Haderlein ab,
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