Das Alabastergrab
Versuche, ihn eines Besseren zu belehren, waren
bisher fehlgeschlagen. Im Ottonianum und bei dessen Leitung löste der
strebsame, stille Knabe natürlich außerordentliches Wohlgefallen aus. Mit der
gleichen Hingabe, mit der er sich dem schulischen Stoff widmete, beschäftigte
er sich in seiner Studierzeit auch mit geistlicher Literatur. Besonders angetan
hatte es ihm die Kirchengeschichte von Bamberg, ein Interessengebiet, das
nahelag, hatten doch seine streng religiösen Eltern den kleinen Bub nach
Clemens II . benannt, dem einzigen
Papst, der jemals nördlich der Alpen begraben worden war. Und zwar im Bamberger
Dom.
Der kleine Clemens genoss also ein strenges katholisches Elternhaus
und wurde schon früh auf seine kirchliche Laufbahn vorbereitet. Das bedeutete
tägliche Kirchgänge, vorbildliche Ministrantenlaufbahn und Bibelstunden mit dem
Vater statt Bolzplatz mit anderen Jungen. Doch damit war es jetzt vorbei. Seine
Eltern waren tot. Trotzdem würde er auch in Zukunft die Wünsche seines Vaters
respektieren.
Clemens tat sich schwer, Freunde zu finden. Täglich bemerkten seine
Kommilitonen die intellektuelle Überlegenheit ihres Mitschülers. Obwohl er
keinerlei Streberallüren erkennen ließ, empfahl er als sich kühler Alleswisser
natürlich nur schwer als bester Kumpel.
Solchen Miniprofessoren kam man normalerweise höchstens im Sport
bei, wenn sie ihren austrainierten Geist auf schmächtigen Körpern zum
Fußballfeld trugen. Aber selbst in diesem Bereich war Clemens Martin nicht zu
schlagen. Er lief allen in Rekordzeit davon, er warf am weitesten, er sprang am
höchsten, und er konnte sogar im hauseigenen Schwimmbad unter Wasser am
längsten die Luft anhalten. Er war einfach allen in allem überlegen. Freunde im
Sinne von Pferdestehlen und Streichen besaß Clemens Martin also nicht, doch
solche Kindereien fand er auch viel zu albern. Der einzige wirkliche Freund,
den er hatte, war sein Tagebuch. Das kleine postkartengroße Büchlein war in hellbraunes
Leder eingebunden und wurde mit einem messingfarbenen Druckknopf
zusammengehalten. Dem Buch vertraute er all das an, was normalerweise unter
Freunden ausdiskutiert wird. Es war mit ihm verwachsen, er und das Buch, sie
waren eins.
Statt Freunden hatte er die Studienkollegen seiner Seminargruppe CADAS . CADAS stand als Abkürzung für »Cum adolescentium aetas«, dem Dekret von Trient, mit
dem 1563 allen Diözesen die Gründung eines Kollegs auferlegt worden war. Den
Kreis hatte er während des letzten Jahres am Ottonianum selbst gegründet. Hier
wurden während der Studierzeit täglich von zwanzig Uhr bis Viertel vor neun
Gedichte vorgelesen, philosophische Fragen erörtert oder sogar mehrstimmige
Kirchenchoräle geprobt. Oft aber wurde auch nur rumgeflachst, natürlich ohne
das Wissen des Regens Schleycher oder sonstiger Lehrkräfte. Die CADAS war eine Art Geheimbund, deren
Mitglieder nichts Illegales im Sinn hatten, sondern nur jenseits der
ottonianischen Doktrin ihre Freizeit gestalten wollten. Schließlich war der
Tagesablauf ansonsten straff organisiert. Dagegen war jede Klosterschule ein
liberaler Hühnerhaufen.
Um Viertel nach sechs war allgemeines Wecken angesagt, man schlief
gemeinsam in einem großen Saal. Dann hatte man fünfunddreißig Minuten Zeit,
sich für den Tag herzurichten, bevor um zehn vor sieben der Gottesdienst
begann, der erst eine halbe Stunde später endete, wonach gefrühstückt wurde.
Trödelei hatte man sich zu verkneifen, denn um acht fing der Schulunterricht im
Franz-Ludwig-Gymnasium an.
Nach der Schule war um eins Mittagessen angesetzt, danach folgte die
schönste Zeit des Tages: über eine Stunde lang Freizeit, die im Seminarhof
verbracht wurde und im Wesentlichen Sport in allerlei Variationen beinhaltete.
Anschließend stand auf dem Zeitplan: Studierzeit, Kaffeepause und wieder
Studierzeit. Letzteres war der Abschnitt des Tages, in dem sich die Mitglieder
der CADAS inkognito treffen
konnten.
Die Gruppe war die einzige Gelegenheit, bei der man Clemens Martin
fast ausgelassen erleben konnte und wo er auch die größte Nähe zu einigen
wenigen seiner Mittelstufenkollegen entwickelte. Die CADAS war der ausschließliche Anklang von Jungenhaftigkeit
und Gruppendasein, den er sich leistete. Davon abgesehen war er am liebsten
allein. Allein mit sich und seinem Tagebuch.
*
Robert Suckfüll war endlich wieder entspannt: Das Kind war da. Zwar
war es nicht auf natürlichem Wege geboren worden, wie es sich seine Frau
gewünscht
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