Das Albtraumreich des Edward Moon
hölzerne
Tafel, die er tagein, tagaus durch die Straßen der Stadt trug. Die Botschaft,
die darauf zu lesen war, begann langsam zu verblassen, aber immer noch stand da
in dicker Frakturschrift:
JA, ICH KOMME BALD
OFFENBARUNG 22.20
Moon hatte Speight noch nie gefragt,
weshalb er es als notwendig erachtete, diese Ankündigung immerzu bei sich zu
tragen, oder warum er gerade diese Zeile aus der Heiligen Schrift gewählt
hatte.
Speight lallte ein undeutliches »Guten Abend«, und
Moon antwortete so freundlich wie möglich und stieg über dieses Strandgut des
Lebens hinweg zur Tür.
Drinnen wartete neben einem Topf voll duftendem
Tee auf dem Herd Mrs Grossmith, ein mütterliches kleines Frauchen, auf ihn. Sie
nahm Moon den Mantel ab und goss ihm eine Tasse Earl Grey ein.
Dankbar ließ Moon sich auf seinen Stuhl sinken.
»Ich danke Ihnen.«
Sie zappelte respektvoll um ihn herum. »War die
Vorstellung erfolgreich?«
Er nahm ein Schlückchen vom Tee. »Ich denke, es
hat ihnen gefallen.«
»Ich sehe unseren Mister Speight heute Abend
wieder draußen.«
»Dort wird er auch bleiben bis zum Ende unserer
Tage. Das macht Ihnen doch nichts aus, oder?«
Mrs Grossmith schnüffelte abfällig. »Ich denke, er
ist wohl recht harmlos.«
»Aber Sie sind nicht überzeugt davon?«
Sie zog die Nase kraus. »Um ganz ehrlich zu sein,
Mister Moon … er riecht schlecht.«
»Soll ich ihn hereinbitten? Ihm ein Bad anbieten?
Ist es das, was Sie möchten?«
Mrs Grossmith verdrehte nur die Augen in hilfloser
Verzweiflung.
»Wo ist der Schlafwandler?«, erkundigte sich Moon.
»Ich glaube, er ist bereits zu Bett gegangen.«
Moon stand auf und stellte seine noch halbvolle
Tasse auf den Tisch. »Dann, denke ich, sollte ich das Gleiche tun. Gute Nacht,
Mrs Grossmith.«
»Das übliche Frühstück morgen?«
»Bereiten Sie es ein wenig früher. Ich werde
ausgehen.«
»Irgendwas Interessantes?«, wollte sie sogleich
wissen.
»Ein Fall, Mrs Grossmith, ein Fall!«
Er ging hinüber ins Schlafzimmer, das er mit dem
Schlafwandler teilte. Sie schliefen in Stockbetten – Moon oben, der Riese
unten.
Der Schlafwandler hatte sich umgezogen und trug
nun einen gestreiften Pyjama (bedingt durch seine außerordentliche Körpergröße
musste alles für ihn nach Maß angefertigt werden); er saß aufrecht im Bett,
Tafel und Kreide neben sich, vertieft in ein schmales Gedichtbändchen.
Zu allem Übrigen war er nunmehr auch noch
vollkommen kahl.
Jeden Morgen bedeckte er unter Zuhilfenahme von
klebrigzähem Gummiarabikum seinen Schädel mit einer Perücke und fügte den
falschen Backenbart hinzu. Und jeden Abend vor dem Zubettgehen nahm er alles
wieder ab.
An dieser Stelle möchte ich ein für alle Mal und
unmissverständlich klarstellen: Der Schlafwandler war nicht einfach nur kahlköpfig –
er war völlig haarlos, und die Haut seines ganzen Körpers wirkte so unnatürlich
glatt wie eine Billardkugel. Es war ein Geheimnis, das er und Moon seit vielen
Jahren eifersüchtig hüteten, und selbst Mrs Grossmith hatte es nur durch Zufall
herausgefunden.
Als nun Moon das Zimmer betrat, legte der
Schlafwandler das Buch zur Seite und blickte mit schläfrigen Augen hoch. Seine
Glatze glänzte anheimelnd im Halbdunkel.
Moon war kaum fähig, sein Hochgefühl in Schranken
zu halten. »Wir haben einen neuen Fall!«, rief er.
Der Schlafwandler lächelte teilnahmslos, doch noch
ehe sich sein Freund in Einzelheiten ergehen konnte, legte er sich hin, drehte
sich auf die andere Seite, machte die Augen zu und schlief ein.
Seine Träume – ihre Beschaffenheit und ihr
genauer Inhalt – entziehen sich bedauerlicherweise meiner Zuständigkeit.
VIER
Am nächsten Morgen wurde der – nach
seinem aussichtslosen Kampf gegen die Gesetze der Schwerkraft zerschmetterte
und kaum wiederzuerkennende – Leichnam Cyril Honeymans nach einer kleinen,
intimen Trauerfeier im Kreise seiner engsten Familie und einiger weniger
Bühnenbekanntschaften zur ewigen Ruhe gebettet. Währenddessen stürzte sich Moon
blindlings in ein fruchtloses Unterfangen – was verhängnisvollerweise
sowohl eine verpasste Gelegenheit, als auch eine bedauerliche Verkennung des
wahrhaft Wichtigen darstellte und, wie sich herausstellen sollte, zahlreiche
unschuldige Opfer kosten würde.
Es mag von einigem, wenngleich
belanglosem Interesse sein, dass die hervorstechendste aller exzentrischen
Neigungen und Schwächen des Schlafwandlers seine Leidenschaft für Milch
war – nicht, dass er bloß
Weitere Kostenlose Bücher