Das Albtraumreich des Edward Moon
Geschmack daran gefunden hätte oder eben eine
Vorliebe dafür zeigte oder sie einfach nur gern trank, nein: es war, wie
gesagt, eine wahre
Leidenschaft
. Er goss sich jeweils ganze Schoppen
davon hinter die Binde, ließ sie sich noch lange, nachdem sein Durst gestillt
war, durch die Kehle laufen und hatte in all den Jahren bei Moon noch kein
einziges Mal auch nur das geringste Verlangen nach irgendeinem anderen Getränk
gezeigt. Er trank Milch wie unter Zwang, so schien es, war süchtig danach und
konnte scheinbar nicht ohne sie leben.
Daher war es keineswegs ungewöhnlich, dass Moon,
als er aus dem Bett stieg und mit morgendlich trägen Schritten in die Küche
ging, dort bereits den Schlafwandler vorfand, der mit drei großen Gläsern Milch
vor sich am Küchentisch saß. Als Moon eintrat, griff der Riese gerade nach
einem der Gläser und nahm einen gewaltigen schlürfenden Schluck, der einen
breiten, weiß gesprenkelten Streifen auf seiner Oberlippe hinterließ. Moon wies
mit einer diskreten Handbewegung auf diesen peinlichen Makel hin und verfolgte
mit nachsichtigem Blick, wie der Schlafwandler ihn wegwischte.
»Ich gehe in Kürze aus«, sagte er, während er mit
Teekanne und Wasserkessel kämpfte, »dachte daran, beim Archiv vorbeizuschauen.
Mal sehen, was ich in dieser Glendinning-Sache ausfindig machen kann.«
Der Schlafwandler neigte den Kopf auf eine Weise,
die sein mangelndes Interesse überdeutlich machte.
»Möchtest du den Ort des Verbrechens besichtigen?«
Ein halbherziges Nicken.
»Um zwölf Uhr mittags werden wir mit Lady
Glendinning zusammentreffen. Warte um elf vor dem Tor der Bibliothek auf mich.«
Moon bedachte den Freund mit einem strengen Blick. »Und darunter verstehe ich
Punkt
elf. Dies ist eine sehr wichtige Sache. Wir dürfen uns nicht verspäten.«
Der Schlafwandler verdrehte die Augen. Moon goss
sich Tee ein und verschwand mit der Tasse im Schlafzimmer.
Bald darauf verließ er allein das Haus und nahm
eine Mietsdroschke ins West End, wo er direkt den Weg zum Lesesaal des
Britischen Museums nahm. Trotz der frühen Stunde war der Raum bis an die Grenze
seiner Aufnahmefähigkeit besucht, denn die meisten Personen reservierten ihren
Platz jetzt für den ganzen Tag, die zerlesenen Wälzer aufgestapelt vor sich,
eifersüchtig gehütet wie der Goldschatz eines Drachens. Moon erblickte einige
andere Stammgäste und tauschte ein höfliches, unverbindliches Nicken aus. Für
viele von ihnen war der Lesesaal wie ein zweites Heim; die immerwährende Stille
und seine beinahe greifbare Atmosphäre der Gelehrsamkeit stellten einen
Zufluchtsort vor dem unaufhörlichen Lärmen der Stadt dar.
Moon trat zu einem der Bibliothekare, einem
strohblonden, sauber geschrubbten jungen Mann – einem Neuzugang, frisch
von einer der Universitäten.
»Ich möchte zur Archivarin.«
Der Bibliothekar sah ihn unsicher an und blickte
sich dann vorsichtig um. »Sie haben einen Besuchstermin?«
»Natürlich.«
»Dann also rasch. Folgen Sie mir.«
Er führte Moon ans hintere Ende des Saales zu
einer kleinen unansehnlichen schwarzen Tür, über deren abblätternder Farbe
Spinnweben hingen. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass niemand hersah,
fischte der Bibliothekar einen seltsam geformten Schlüssel aus der
Jackentasche. Moon bemerkte, dass seine Hand zitterte und Schwierigkeiten
hatte, das Schlüsselloch zu finden.
»Viel Glück.«
Ohne zu antworten trat Moon ein.
Der junge Mann gab sich gar keine Mühe, die
Erleichterung auf seinem Gesicht zu unterdrücken; er schloss umgehend die Tür
hinter dem Besucher, und Moon hörte, wie sich der Schlüssel knirschend drehte.
Der Raum war so schwach beleuchtet, dass es
anfangs schwerfiel zu erkennen, wie weit er sich nach hinten erstreckte. In dem
Halbdunkel wirkte er wie eine riesige Höhle – gar nicht wie etwas von
Menschenhand Erschaffenes, sondern als hätte die Erde selbst ihn mit Hilfe der
Zeit aus dem Felsen gehauen. Alles war vollgestopft mit Papier; es füllte die
Regale, lag in riesigen Stapeln auf Bücherbrettern und in Gestalt von
Folianten, Broschüren, Journalen, Manuskripten, Pamphleten, Akten und Zeitungen
in Fächern, die fast bis an die Decke wuchsen und dem Raum etwas
Schwindelerregendes verliehen.
»Mister Moon! Wie lange ist es schon wieder her!«
Die Stimme kam hinter einem Stapel altersfleckiger Zeitungen, vergilbt und mit
aufgerollten Ecken, hervor. Der Stapel war so hoch, dass er selbst den
Schlafwandler überragt hätte. Die Sprecherin
Weitere Kostenlose Bücher