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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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trat hervor in den schwachen
Lichtschein – ein Weiblein in weit fortgeschrittenem Alter, hinfällig wirkend
und krumm vor Altersschwäche. Mit einem milchweißen Blick aus leeren Augen sah
sie zu Moon hoch.
    Ich nehme an, Sie haben schon von der Archivarin
gehört? Sie kannte jeden Zoll des Archivs, war seine Hüterin, sein Schutzgeist,
und fühlte über die gesammelten Schriften und Aufzeichnungen den fiebrigen
Herzschlag des kriminellen London.
    »Sie dürfen das Licht höher drehen«, sagte sie.
»Ich weiß, einer von uns beiden braucht es.«
    Folgsam stellte Moon die Lampe neu ein, und nun
war der Raum von einem sanften Schein erhellt.
    »Ich nehme an, Sie arbeiten an einem Fall.«
    »Jawohl Madam. An der Glendinning-Sache.«
    »Ah. Alles sehr unerfreulich, wie es aussieht. Ich
vermute, es war Gift. Welch grausame Methode. Aber werden wir je einen Bericht
über Ihre Nachforschungen zu lesen bekommen? Ich höre, Mister Stoddart hat
Ihnen ein Angebot gemacht.«
    Moon fragte sich, wie sie zu dieser Information
gekommen sein konnte. »Das bezweifle ich, Madam.«
    »Schade.« Die Archivarin holte ein Taschentuch aus
dem Ärmel und schneuzte sich, laut und lange. Moon konnte es in ihrer Nase
rattern hören wie in einem alten Heizkessel, der entlüftet gehört. »Sie
langweilen sich«, stellte sie sodann fest.
    »Seit mehr als einem Jahr hatte ich keine
Gelegenheit, meine Fähigkeiten an einem Fall zu beweisen!«
    »Seit Clapham«, ergänzte die Alte trocken.
    Moon ignorierte die Bemerkung. »Karnickel aus dem
Hut zu zaubern ist für einen Mann meiner Begabung keine Art, seinen
Lebensunterhalt zu verdienen.«
    »Ich habe Ihr Theater besucht, Mister Moon. Ich
sah dort weder Karnickel noch Hüte. Aber ich darf Sie nicht aufhalten, Sie
müssen einen Mörder fangen. Wollen mal sehen, was ich ausgraben kann.« Unsicher
und wackelig tappte sie zwischen den Regalen davon.
    Moon ließ sich nahe der Tür auf einem Stuhl
nieder, doch kaum hatte er Platz genommen, erschien die Archivarin wieder, ein
halbes Dutzend verstaubte Wälzer in Händen. Fast konnte man meinen, sie hätte
längst schon gewusst, wonach er suchen würde, und die entsprechenden Bücher
zusammengetragen.
    Sie legte ihm eine runzlige Hand auf die Schulter.
»Sie haben zwei Stunden. Um elf Uhr erwarte ich einen Besucher.«
    »Ich nehme nicht an, dass es Sinn hat, nach seinem
Namen zu fragen, oder?«
    »Jetzt sollten Sie die Regeln wirklich schon
kennen«, antwortete sie ohne die Spur eines Lächelns.
    Ernüchtert klappte Moon das erste Buch auf.
    »Sagen Sie es mir, wenn Sie noch etwas benötigen.«
    »Vielen Dank«, murmelte er, schon in seine Lektüre
vertieft.
    Die Archivarin tätschelte ihm sanft und mütterlich
die Schulter und verschwand in den Tiefen des Raumes.
    Das »Archiv« – das geheime Magazin
der Bibliothek – war ein Ort, von dessen Existenz kaum hundert Personen in
ganz England wussten. Edward Moon war stolz darauf, einer von ihnen zu sein.
    Als er um Punkt elf Uhr durch die
Eisentore des Museums ins Freie trat, war er erleichtert, den
Schlafwandler – nunmehr wieder behaart – davor warten zu sehen.
    WARST DU ERVOLGREICH?
    »Sehr«, sagte Moon und gab sich Mühe,
angesichts der Rechtschreibung beherrscht zu bleiben.
    Sie winkten eine Droschke herbei, und Moon gab dem
Kutscher Lady Glendinnings Adresse.
    Sie wohnte in einem großen Stadthaus in Hampstead,
umgeben von einer unübersehbaren Schar von Dienstboten, Köchen, Küchenmägden,
Butlern, Kutschern und Gärtnern – kurz gesagt, mit all dem menschlichen
Drum und Dran der wahrhaft Reichen. Moons Lektüre am Morgen hatte ergeben, dass
dies nur das Londoner Heim der Glendinnings war; ihre Hauptresidenz befand sich
draußen auf dem Lande – in irgendeinem beeindruckenden alten Gemäuer,
erfüllt von Widerhall und Staub und im Winter einfach nicht warmzukriegen.
    Als sie in Hampstead ankamen, sprang Moon
aufgeregt aus der Droschke und überließ es dem Schlafwandler, den Kutscher zu
entlohnen.
    Er hatte auf eine Gelegenheit gehofft, seine
übliche Vorgangsweise als Detektiv anwenden zu können: das Mordzimmer zu
besichtigen, sich die Verdächtigen einzeln vorzunehmen und zu befragen, danach
abzuschätzen, wer als wahrscheinlicher Täter in Frage kam, und sie dann alle ins
Wohnzimmer zu bitten, um den Mörder zu entlarven. Doch in dem Moment, als sie
hier eintrafen, sah er, dass das ganze Haus von Betriebsamkeit erfüllt
war – wuselnde, blau uniformierte Polizisten, Scharen von

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