Das Albtraumreich des Edward Moon
machte einen
erfolglosen Versuch, mit den Händen seine Blöße zu bedecken. »Ich weiß nicht,
was ich sagen soll!«
»Besser, du schweigst still.« Sie wandte sich an
das Freudenmädchen. »Ich danke Ihnen, meine Liebe. Sie dürfen sich jetzt
ankleiden.« Das Mädchen knickste und ging unverzüglich daran, sich die Röcke zu
ordnen.
Verängstigt und mit aufgerissenen Augen stand
Honeyman da und sah zu; von draußen kam ein weiteres heftiges Dröhnen. »Du
wusstest es?«
Seine Mutter lächelte.
Wieder vernahm er das Geräusch draußen, drehte
sich um und blickte aus dem Fenster. Von Entsetzen erfüllt wollte er seinen
Augen nicht trauen: Eine Gestalt kletterte den Turm hoch, krabbelte lärmend die
Fassade des Gebäudes empor – höher und immer höher, so mühelos wie eine
Eidechse an einem Steinwall.
»Mutter!«, winselte Cyril.
Die Gestalt draußen war nun fast oben, und im
nächsten Augenblick erschien ein Gesicht vor dem Fenster. Es hatte die Umrisse
und Größe eines menschlichen Antlitzes, doch ansonsten war nichts Menschliches
an ihm. Es schien einer ganz eigenen Spezies zu gehören; seine fahle Haut war
mit ekelhaften grauen Schuppen bedeckt, die in grotesken Falten von Wangen,
Lippen, Kinn und Lidern hingen wie heiße Käseklumpen von einem Stück Toast. Es
war ein Gesicht aus geschmolzenem Kerzenwachs.
Honeyman war wie gelähmt vor Angst. Die Kreatur
grinste ihn bösartig an und ging daran, mit Bedacht an den zarten Bleistreifen
zu zupfen, von denen die Fensterscheiben zusammengehalten wurden.
»Mutter!«, schrie Honeyman. »Es versucht
hereinzukommen!«
Sie lächelte milde. Die Dirne, nunmehr wieder
vollständig bekleidet, tauchte an ihrer Seite auf, und gemeinsam versperrten
sie Honeymans einzige Fluchtmöglichkeit. Draußen machte sich das grausige Wesen
unbeirrt an den Bleifassungen der Scheiben zu schaffen; denkbar, dass es sich
nur um Einbildung handelte, aber Honeyman hätte geschworen, dass es dabei ein
fröhlich’ Liedchen pfiff …
»Mutter! Mutter, hilf mir!«
Das Ding vor dem Fenster fuhr fort, die Scheiben
zu bearbeiten, unbeirrbar in der Absicht, ins Innere des Raumes einzudringen,
bis mit einem durch Mark und Bein gehenden Schnarren das Blei wegbrach.
»Sag mir wenigstens, warum!«, schrie Honeyman.
Durch die Risse und Spalten zwischen den Scheiben
drang die kalte Nachtluft herein, und er spürte, wie sie ihm über den Nacken
strich und am Rückgrat hinabrieselte.
Seine Mutter seufzte. »Du hast dich willfährig dem
Laster ergeben.«
Hinter Honeyman bohrte sich ein knochiger Finger
ins Zimmer und riss ein Stück Glas aus dem Fenster. Die Kreatur ließ es nach
draußen fallen, und es war zu hören, wie es unten auf der Straße klirrend
zersplitterte.
»Du bist wahrhaftig eine Enttäuschung«, stellte
sie fest. »Und dabei hatten wir so große Hoffnungen in dich gesetzt.«
»Mutter, bitte! Was immer ich getan habe –
wie sehr ich euch auch enttäuscht habe –, es tut mir leid. Es tut mir
leid!
Es tut mir leid!
«
Mit unglaublicher Kraft und anscheinend
unempfindlich gegen den Schmerz räumte die Kreatur den Rest des Glases zur
Seite und zwängte sich ins Innere des Raumes. Voll angespannter Kraft hockte es
neben Honeyman und schielte übelwollend hoch zu ihm – eine Vision des
Bösen, herausgetreten aus einem Bosch-Gemälde, noch feuchtglänzend von frischer
Farbe.
Wieder lächelte Mrs Honeyman. »Möge der Herr dir
gnädig sein.« Sie nickte der Kreatur zu, die folgsam auf die Füße sprang, ihrem
Opfer zuleibe rückte und es in Richtung des zerbrochenen Fensters zwang.
In Todesangst schrie Honeyman auf. Er versuchte,
ein letztes Flehen über die Lippen zu bekommen, doch noch ehe er dazu fähig
gewesen wäre, hatte sich das Scheusal bereits auf ihn geworfen und drängte ihn
weiter und immer weiter rückwärts, bis Honeyman – nach einem endgültigen,
trügerisch sanften Schub – durch das Fenster verschwand und in die
unbarmherzig kalte Nachtluft hinaussegelte.
Er kreischte auf dem ganzen Weg nach unten.
Augenblicke später folgte ihm die Kreatur – sprang aus dem Fenster,
krabbelte blitzschnell die Turmfassade hinab und flitzte in die Nacht davon.
Oben hielten sich Mrs Honeyman und die Dirne an
den Händen.
»Gott sei mit dir«, sagte die eine.
»Gott sei mit dir«, echote die andere.
Und so, Hand in Hand, verließen sie den Turm und
verschwanden in die Stadt.
Cyril Honeyman lebte noch, als man ihn
fand; sein Abgang wurde verfolgt von einem
Weitere Kostenlose Bücher