Das Allheilmittel - Valoppi, J: Allheilmittel
Er wartete auf den Aufzug, der ihn zum Privateingang seiner Wohnung im zehnten Stock brachte.
Mit vier Zimmern, einer Abstellkammer und einem Hausmädchenzimmer war das Apartment gemessen am Luxusstandard New Yorks klein, hingegen riesig für durchschnittliche New Yorker. Das Wohnzimmer war am größten, aber zu ausgefallen für Justins Geschmack, weshalb er nicht viel Zeit auf dem pastellfarbenen Perserteppich oder den rosa Seidensofas und den mit Quasten und Fransen verzierten Stühlen verbrachte.
Natasha wartete wie immer bereits am Aufzug auf ihn. Kaum hatte sie ihn erblickt, sprang sie auf die kurzen Beine, wedelte heftig mit dem Schwanz und sah freudig seiner Begrüßung entgegen. Er hob sie hoch und hielt sie fest, während sie sich krümmte und wand, um ihm das Gesicht abzulecken.
»Rate mal, wer heute nach Hause kommt, Natasha – Oma! Da wirst du dich erst freuen.«
Natasha folgte ihm in die Küche. Auf der weißen Marmorplatte der Kücheninsel erwartete ihn auf einem weißen Teller ein getoasteter Bagel mit Speck, Salat und Tomaten. Daneben lag eine Serviette aus weißem Leinen mit Monogramm. Justin zog ein vorstehendes Stück Speck aus dem Bagel und warf es dem Hund zu, der es aus der Luft schnappte, lange bevor es den schokoladenbraunen Holzfußboden erreichte. Alles Übrige im Raum war weiß oder aus Edelstahl.
Justin warf die Serviette neben das Spülbecken, griff sich ein Papiertuch vom Regal, steckte sich den Bagel in den Mund und drehte die Kristallkugel am Kronleuchter wie eine Diskokugel – wie er es immer tat.
Dann kramte er in der Kristallschale von Tiffany unter dem Kronleuchter, während Natasha an seinem Hosenbein zupfte. Er suchte zwischen den Schlüsseln und den losen Münzen nach Geld, das seine Mutter vielleicht da gelassen hatte. Tatsächlich fand er einen Zwanziger und drei Ein-Dollar-Noten.
Mit Natasha unter dem Arm ging er in sein Zimmer. Schon von Weitem hörte er, dass Erbie, die Haushälterin, darin staubsaugte.
Er befreite sich von seinem Rucksack, der Krawatte und dem Blazer, der grauen Hose und dem Oxfordhemd und warf alles aufs Bett. Nur mit Boxershorts bekleidet kramte er in seinen Schubladen nach seinen Lieblingsjeans Marke Levis und einem schwarzen T-Shirt.
»Dein Hund haart, Justin«, rief Erbie über den Lärm des Staubsaugers hinweg. »Du musst sie mal baden oder kämmen oder so.«
»Natasha ist ein Kurzhaardackel, Erbie. Die haaren nicht.«
»Oh, und ob. Oder wie nennst du das hier?« Sie hob ein paar Haare vom Teppich auf.
»Na gut, dann haart sie eben ein wenig.«
Justin zog sich an und holte eine Quittung aus seiner Kommode. In dicken Großbuchstaben schrieb er ›ABSETZEN‹ darauf. »Kannst du das bitte in Moms Steuerablage werfen? Ich habe ein paar Zusatzkanäle fürs Kabelfernsehen bestellt, und sie vergisst immer, dass sie so etwas steuerlich absetzen kann.«
»Sicher«, erwiderte Erbie. Sie stopfte die Quittung in die Tasche derselben perfekt gebügelten, weißen Uniform, die sie Tag für Tag trug. »Aber du weißt schon, dass deine Mutter Leute dafür bezahlt, auf solche Dinge zu achten.«
»Ja, aber das sind Idioten. Die denken nie daran. Ich will nur sichergehen, dass sie die steuerlichen Abzüge in Anspruch nimmt, auf die sie ein Anrecht hat«, sagte er. »Schließlich ist sie in der Fernsehbranche.«
Erbie schaltete den Staubsauger aus und zog einen Staublappen aus ihrer Schürze hervor. Justin ertappte sich dabei, darüber nachzudenken, wie alt sie sein mochte. Vermutlich um die sechzig. Sie verschob seine Kommode, um die Dielenbretter dahinter abzuwischen. Es machte ihr nichts aus, Möbel zu verrücken oder Sonstiges zu tun, das nötig war, um die Wohnung sauber zu bekommen – außer, wenn es um Fenster ging. Den Fenstern näherte sich Erbie nie. Sie hatte einen schlimmen Fall von Höhenangst, und die hohe Lage des Apartments verursachte ihr Schwindel. Wenn sie hinausschaute, verlor sie manchmal das Gleichgewicht. Justin fuhr im Vorbeigehen mit seinem schmutzigen Hemd über den Fenstersims.
Erbie war eine in New York geborene und aufgewachsene Afroamerikanerin. Sie wohnte schon ihr ganzes Leben voll Stolz in Harlem und besaß, was seine Mutter als die Arbeitsmoral des mittleren Westens bezeichnete. Erbie zufolge stellte es einen Bestandteil ihres Glaubens dar, all ihr Herz in ihre Arbeit zu legen. Wenn sie nicht gerade arbeitete, besuchte sie jeden Abend die Kirche und liebte es, Justin Geschichten über junge Männer zu erzählen, die
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