Das Allheilmittel - Valoppi, J: Allheilmittel
hielt bei einem Cartoon inne, dann hörte er, wie sich im Flur die Aufzugstüren öffneten.
»Hallo«, rief Madeline.
Das Telefon klingelte erneut. Die Anruferkennung verriet, dass es Samantha war. Justin hob nicht ab.
»Du siehst toll aus«, sagte Justin. Das war eine Untertreibung; tatsächlich sah sie atemberaubend aus – glattes, schwarzes, schulterlanges Haar, dunkle, mandelförmige Augen und fein geschnittene Züge. Ihre langen, zierlichen Beine wurden spärlich von einem kurzen roten Rock bedeckt. Um die Mitte trug sie ein großes Grosgrainband, darunter eine dicke, schwarze Strumpfhose. Die halbhohen Wildlederstiefel Marke Peter Pan hatten zum Glück flache Absätze; Justin würde sich nicht auf die Zehenspitzen strecken müssen, um ihre glänzenden Lippen zu erreichen.
»Justin!« Sie knuffte ihn leicht in den Arm, als er beiseite rutschte, um für sie Platz auf dem Bett zu machen. Ihr weicher, weißer Angorapullover kitzelte ihn, als sie ihn berührte.
»Ist es in Ordnung, wenn wir hier sitzen?«, fragte er, denn er hatte keine Ahnung, ob es angemessen war, sich mit Madeline in seinem Zimmer aufzuhalten. Ihn besuchten zwar regelmäßig Freunde und Freundinnen, aber da Madeline eingewilligt hatte, als sein Date mit ihm zu einer Party zu gehen, fühlte es sich irgendwie seltsam an.
»Ja, klar«, meinte sie und ließ sich auf der Bettkante nieder. »Ich habe über dieses Mathematikprojekt nachgedacht. Willst du darüber reden?«
»Sicher.«
»Einige Wissenschaftler meinen, Zeit und Raum seien wie ein Stoff, der uns umgibt. Wir könnten hindurchgelangen, wenn die Maschen groß genug oder wir klein genug wären.«
»Also bräuchten wir eine Verkleinerungsmaschine? Das hört sich ziemlich lächerlich an.«
»Alles in der Physik hat sich irgendwann lächerlich angehört«, gab Madeline zurück.
Noch bevor der Aufzug hielt, begann Natasha zu bellen.
»Das ist meine Großmutter«, rief Justin aufgeregt aus. Er war dankbar für die Unterbrechung. Rasch stand er auf – und lernte eine schmerzliche Lektion über seinen Knöchel. »Autsch!«, schrie er.
»Alles in Ordnung?«, fragte Madeline.
»Ja, ich bin nur – o Scheiße, tut das weh.« Langsam ging er los.
»Willkommen zu Hause, Miss Claire«, sagte Erbie an der Eingangstür. »Es ist so schön, Sie wieder hier zu haben.« Sie nahm Helene die Reisetasche ab.
»Wann immer Sie hungrig sind, wartet Ihr Leibgericht auf Sie – Misosuppe und brauner Reis mit Gemüse«, fügte sie hinzu. »Möchten sie vorerst eine heiße Tasse Grüntee?«
Justin sah, dass Natasha an den Beinen seiner Großmutter auf- und abhüpfte, aber sie schüttelte den Hund einfach ab.
»Schluss mit dem Mist!«, entgegnete Claire unwirsch. »Dieser ganze organische Scheiß hat mir überhaupt nichts gebracht. Rufen Sie im Feinkostladen an und bestellen Sie mir Pastrami auf einem Zwiebelbrötchen mit viel Senf.«
»Wurde aber auch Zeit«, murmelte Erbie lächelnd.
»Mom«, meldete sich Helene zu Wort, »das könnte ein bisschen viel auf einmal für deinen Magen sein. Du hast seit Jahren nichts derartiges mehr gegessen. Vielleicht solltest du mit etwas Leichterem anfangen.«
»Wenn nicht jetzt, wann dann?«, gab Claire zurück, bereits auf dem Weg zu ihrem Zimmer.
»Oma!«, rief Justin. Er wollte sie umarmen, aber sie lief geradewegs an ihm vorbei.
»Hi, Justin«, war alles, was sie brummte.
»Oma!«
Sie blieb stehen. »Tut mir leid, Justin. Ich bin bloß so müde und fühle mich nicht wie ich selbst. Ich muss viel schlafen.«
Bevor sie in ihr Zimmer verschwinden konnte, schlang Justin die Arme um sie und drückte sie. »Du hast mir hier so gefehlt«, flüsterte er.
»Es ist schön, zurück zu sein«, erwiderte sie und ging in ihr Zimmer.
Natasha folgte ihr, doch Claire schloss die Tür, bevor der Hund hineinkonnte.
»Denk dir nichts dabei«, sagte Helene. »Sie soll ständig schlafen, das gehört zur Behandlung. Sie ist einfach nicht gut drauf. Lassen wir ihr etwas Freiraum.«
»Was ist mit dem Feinkostladen?«, wollte Erbie wissen.
»Besorgen Sie ihr, was sie haben will«, antwortete Helene.
Justin und Madeline kehrten in sein Zimmer zurück.
Madeline hob Natasha hoch. »Keine Sorge, Schnuckel, ich bin sicher, sie hat dich bloß nicht gesehen«, sagte sie. »Eine Chemotherapie muss echt schlimm sein.«
»Sie bekommt keine Chemo. An ihr wird eine neue, experimentelle Handlung erprobt, von der niemand außerhalb der Familie etwas wissen soll. Es ist ein großes
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