Das Allheilmittel - Valoppi, J: Allheilmittel
beginnen, als Erbie jäh erwachte.
»Ich glaube, ich bin ohnmächtig geworden«, sagte sie.
Robert hob sie auf den Stuhl und lagerte ihre Füße auf den Schemel hoch. Dort blieb sie, bis die Sanitäter eintrafen und sie ins Krankenhaus brachten.
Claire schlief den ganzen Tumult hindurch und bemerkte die Ankunft der Sanitäter in ihrem Zimmer anscheinend nicht. Einer der Männer zeigte sich darüber so besorgt, dass er ihre Atmung und ihren Puls überprüfte. Helene teilte ihm mit, dass ihre Mutter ohnehin einen festen Schlaf besaß und überdies gerade eine medikamentöse Behandlung durchmachte. Es war eine einfache, wenngleich nicht ganz wahrheitsgemäße Erklärung.
Danach kehrten die Kinder in ihre Betten zurück, und Robert blieb bis in die frühen Morgenstunden bei Helene. Dabei redeten sie über Gott und die Welt.
Robert konnte kaum glauben, dass er noch zu solchen Gefühlen in der Lage war, wie er sie in Helenes Nähe verspürte. Die Aussicht auf eine neue Liebe barg Trost – sie konnte eine alte nicht ersetzen, aber sie brachte in sein kahles Herz alles zurück, was er je geliebt hatte.
44
Als Claire kurz vor dem Morgengrauen durstig erwachte, schliefen alle anderen. Ihre Wasserflasche neben dem Bett, die für gewöhnlich von Erbie gefüllt wurde, war nicht da. Die Aussicht, auf dem kalten Holzboden in die Küche gehen zu müssen, verärgerte Claire dermaßen, dass sie aus Trotz darauf verzichtete, in ihre Pantoffeln zu schlüpfen.
Wie sich herausstellte, war der Boden nicht kalt, und sie schaffte es mühelos in die Küche. An der Kühlschranktür bemerkte sie ihr Spiegelbild und hielt inne, um sich die Haare zurechtzustreichen.
Dann ergriff sie eine Wasserflasche und probierte mit den Fingern ein Stück von einem Schokoladekuchen. Sie beschloss, sich ein ganzes Stück zu gönnen und setzte sich mit einem Barhocker an die Kücheninsel. Heißhungig aß sie mehr als seit langer Zeit.
Auf dem Rückweg durch das Wohnzimmer überkam sie das Bedürfnis, an den Pfingstrosen in einer Lalique-Kristallvase mit Engelsverzierung, die auf einem ockerfarbenen Marmorsockel stand, zu schnuppern. Sie konnte den Duft nicht wahrnehmen. Als sie sich näher hinbeugte, setzte sich die Vase in Bewegung. Claire hatte nicht beabsichtigt, sie zu berühren – tatsächlich hatte sie es nicht einmal bemerkt –, aber plötzlich stürzte Helenes Lieblingsvase wie in Zeitlupe zu Boden.
Claire beobachtete, wie sie mit einem Klirren aufprallte und in zwei Teile zerbrach. Rasch sah sie sich um und wartete, ob jemand erwachte. Doch alles blieb still.
Sie kehrte in die Küche zurück, wo sie aus dem Schrank eine Mülltüte und einen Mopp holte. Die beiden Scherben steckte sie in die Tüte, das verschüttete Wasser wischte sie mitsamt den kleineren Splittern auf. Anschließend brachte sie den Mopp in den Schrank zurück, begab sich mit der Mülltüte in der Hand in ihr Zimmer, öffnete das Fenster und ließ die Tüte an der Gebäudeseite entlang hinabfallen. Sie landete zehn Stockwerke tiefer auf dem Bürgersteig der verwaisten Park Avenue.
45
Justin erwachte und wand sich vor Schmerzen. Er griff nach seinem Medikament und bemerkte, dass sein Knöchel auf die doppelte seiner üblichen Größe angeschwollen war. Außerdem fühlte er sich völlig ausgehungert. Vielleicht würde ihn etwas zu essen von den Schmerzen ablenken.
Ohne Erbie, die für ihn kochte, wusste er nicht, was er in der Wohnung zu essen finden könnte. Madeline nutzte einen Lehrerfortbildungstag, um statt der Schule einen Tanzkurs zu besuchen, und Helene war bei der Arbeit. Nur er und seine Großmutter waren zu Hause. Auf einem Bein humpelte er in die Küche und suchte in den Schubladen nach den Bestellspeisekarten.
»Was sollen wir uns kommen lassen, Oma?«, rief er auf einem Bein stehend und stützte sich mit der Hand an der Anrichte ab. »Willst du etwas aus dem Imbiss, etwas Chinesisches oder Italienisches?«
»Chinesisch«, rief sie zurück. »Und den Nachtisch von gestern Abend.«
Justin lächelte und holte den Kuchen aus dem Kühlschrank. Auf dem Rückweg zur Kücheninsel drehte er wie üblich die Kristallkugel des Kronleuchters; diesmal jedoch so heftig, dass sie von ihrem winzigen Metallhaken sprang. Instinktiv griff er danach, verlor das Gleichgewicht und stürzte im selben Moment zu Boden, als die Kugel auf der Marmorfläche der Anrichte aufprallte und zerbrach. Gleich darauf ertönte das Klingeln, das bedeutete, dass der Pförtner einen Besucher
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