Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
tat sich rein gar nichts. Die ausgeblichenen Vorhänge wurden nicht aufgezogen. Niemand kam und niemand ging. Um zehn Uhr beschloss Bryan, seinen Posten zu verlassen.
Bis zu seinem Besuch im Sanatorium hatte er noch einige Stunden Zeit.
Auf der Hauptstraße herrschte das beruhigende Treiben eines Samstagvormittags. Frauen waren in Begleitung ihrer Männer unterwegs. Im Eingangsbereich des Kaufhauses auf der anderen Straßenseite, wo er vor zwei Tagen einen Ausländer bei der Anprobe von Shorts beobachtet hatte, schlüpfte eine Frau in ein Paar Schuhe und trat ein paarmal kräftig auf. Als sie aufblickte, erinnerte sie Bryan an Laureen. Er hatte schon so manchen Einkaufsbummel mit seiner Frau gemacht und in seinem dicken Mantel geschwitzt, während er vor der Anprobe auf sie wartete. Die Frau mit den Schuhen gebärdete sich hektisch. Eine Eigenschaft, die er von Laureen überhaupt nicht kannte.
Auf einmal wünschte er sich, die Frau dort drüben wäre Laureen.
Das Münster war ein architektonisches Meisterwerk der Gotik, an dem ganze dreihundert Jahre gebaut worden war. In diesem Gebäude und auf dem Platz davor spielte sich seit fast achthundert Jahren die Stadtgeschichte ab. Darum war es vor dreißig Jahren auch ein beliebtes Ziel der Kampfbomber der Alliierten gewesen, die binnen Stunden alles hatten auslöschen wollen, was diese Stadt ausmachte.
Heute kam ihm der Stadtkern viel kleiner vor als gestern. Vom Münsterplatz zum hektischen Leopoldring und von dort weiter zum Stadtgarten, der im Osten ins Gebirge überging, brauchte er nur zwei Minuten.
Eine lange geschwungene Fußgängerbrücke aus Beton endete im Nordosten wunderbar formvollendet im Farbenreichtum des Parks. Von dort schaukelten die Gondeln der Seilbahn zum Schlossberg hinauf. Auf halber Strecke befand sich ein romantisch gelegenes Restaurant am Berghang. Von dort musste die Aussicht über die Stadt und die Landschaft bis hinüber nach Emmendingen und zu den dahinterliegenden Bergen einzigartig sein.
Auf der Fußgängerbrücke blieb Bryan einen Moment stehen und sah sich um. Vielleicht war es Einbildung, aber er hatte das Gefühl, dass diese Stadt ihn ablehnte. Ihn loswerden wollte.
Keiner der eiligen Passanten schenkte ihm Beachtung. Unter ihm rollte der Verkehr. Nur er stand still. Er und die hochgewachsene Frau, die sich mit einer großen Plastiktüte zu ihren Füßen einige Meter hinter ihm gegen das Geländer lehnte und zum Schlossberg hinübersah.
Eine Horde fröhlich kreischender Kinder, gefolgt von angeregt plaudernden Eltern, tobte binnen weniger Sekunden über die Brücke und steuerte die Talstation der Seilbahn an. Noch bevor die jungen Eltern ganz an Bryan vorbei waren, hörte er energisch über den Brückenbeton klappernde Absätze.
Die Frau war klein, schlank. Sie war heute schon die zweite, die Bryan an eine andere Frau erinnerte. Nur wusste er in diesem Fall nicht recht, an welche.
Sie war nicht mehr ganz jung. Eine genaue Altersbestimmung war nicht möglich.
Genau das war es, was ihm als Erstes auffiel. Und dann ihr Tempo.
Bryan wandte sich zu ihr um und beobachtete sie.
Sie war eine dieser Frauen, die man irgendwo schon einmalgesehen zu haben meinte. Das konnte vor zwanzig Minuten im Bus gewesen sein, vor zwanzig Jahren an der Universität, irgendwann in irgendeinem Film oder mal flüchtig am Bahnhof. Es lief in der Regel auf das Gleiche hinaus: Man kam einfach nicht darauf, woher man sie kannte – geschweige denn, wer sie war.
Als sie ihn passiert hatte, folgte er ihr. Im Park angekommen, verlangsamte sie ihre Schritte. Auf der Höhe des Fahrkartenschalters für die Seilbahn blieb sie einen Moment stehen und betrachtete die aufgeregten Kinder. Dieser kurze Halt passte in das Gesamtbild, das an Bryans Gedächtnis rührte, aber er verwarf sämtliche Möglichkeiten, die ihm durch den Kopf schossen. Sie setzte sich wieder in Bewegung und folgte einem der Wege in den Park hinein. Bryan war nun zum dritten oder vierten Mal hier, hatte aber nicht das Gefühl, sich auszukennen. Die Frau bog nach links um den See ab und verschwand in Richtung Jakob-Sowieso-Straße.
Als Bryan die Bäume hinter sich ließ, war sie verschwunden. Auf der Grünfläche vor ihm tummelten sich Menschen. Bei einer Traube Neugieriger, die ein paar Gauklern zusah, blieb er stehen und blickte sich aufmerksam um. In seinem Kopf hatte sich nach und nach kaum merklich und beunruhigend das Bild einer ganz bestimmten Frau geformt.
Bryan rannte
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