Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
sie die Tür an der Plattform und eisige Luft strömte herein. Mitten im Lazarettwagen, direkt vor Bryans Bett, wurden sie von den Ärzten empfangen, die resigniert ihr »Heil Hitler« erwiderten und sofort hitzig zu argumentieren begannen. Die Frauen sprachen fast gar nicht, sondern ließen die vorgesetzten Ärzte reden, die ihre Wut zum Ausdruck brachten. Dann schritt die gesamte Gruppe die Betten ab, nur unterbrochen von den knappen Kommentaren der Ärzte. An Bryans Bett blieben sie kurz stehen, flüsterten und verschwanden anschließend zum nächsten Wagen.
»Gestapo. Die Frauen gehören zur Gestapo«, flüsterte James, sowie die Wagentüren zugefallen waren. »Die sollen auf uns aufpassen. Tag und Nacht! Und wenn in diesem Wagen noch einmal ein Fehler gemacht wird, gibt es einen Heidenärger.Wir sind hier in feine Gesellschaft geraten, Bryan. Wir stellen was dar. Ich weiß nur verdammt noch mal nicht, was!«
Von nun an saß permanent eine der Frauen auf einem Stuhl ganz am Ende des Wagens. Unmittelbar vor Abfahrt des Zuges traf ein Verwundetentransport ein. Draußen war es noch immer dunkel. Mehrere Tragen mit reglosen Verwundeten, für die ein paar leere Betten vorgesehen waren, wurden hereingebracht. Aber die Aufseherin wich nicht ein Jota zur Seite, um den Trägern Platz zu machen. Das war nicht ihre Aufgabe.
Nicht länger mit James reden zu können, verstärkte Bryans Unsicherheit. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie abhauen wollten. Aber was nun? Wann immer Bryan zu James hinüber schielte, konnte er nur den Umriss seines Körpers sehen, der sich unter dem weißen Stoff abzeichnete.
Den Fahrgeräuschen nach zu urteilen, hatte der Zug wieder seine volle Geschwindigkeit erreicht. Zum Abspringen war es jetzt zu spät, Wache hin oder her.
Man würde sie also entdecken. Eine einfache Rechenaufgabe mit nur noch zwei Unbekannten: wann und mit welchen Konsequenzen.
Um nicht gleich mit der zweiten Unbekannten zu beginnen, lenkte Bryan seine Gedanken auf den Zeitpunkt. Seit sie auf den Zug geklettert waren, hatten sie höchstens zweihundert Kilometer zurückgelegt. Wenn Bryan die Augen schloss, konnte er sich mühelos einen Umriss von Deutschland und die geographischen Koordinaten des Landes vorstellen. Diese zweihundert Kilometer waren also wiederum eine bekannte Größe, das Ziel dagegen eine unbekannte. Es mochte ein Tag vergehen, bis sie den Ankunftsort erreichten. Oder auch zwei. Vielleicht war es nur eine Frage von Stunden. Alles hing ab vom Ziel, von der Geschwindigkeit, der Anzahl der Haltestellen und Angriffe auf die Bahnstrecke, möglicherweise auch aus der Luft.
Als Bryan die Augen aufschlug, baumelten die Lampen in einem matten milchigen Schein über ihm. James’ Arm hing wieder über die Bettkante. Er hatte an Bryans Bett geklopft, um ihn zu wecken.
»Du bist unruhig«, formten James’ Lippen stumm, er wirkte besorgt.
Bryan wusste nicht, was er getan hatte, und war schlagartig zurück in der Realität. Er schnarchte nur sehr selten, und soweit er wusste, hatte er noch nie im Schlaf gesprochen. Oder doch?
Die Krankenschwestern hatten schon mit dem morgendlichen Waschen begonnen. Anders als am Vortag verrichteten die Frauen mechanisch ihre Arbeit. Dunkle Ränder unter den Augen und die ungesunde Blässe zeigten, was sie durchgemacht hatten. Ohne Schlaf, verantwortlich für Hunderte von Verwundeten und dazu die Vorwürfe der Vorgesetzten – sie standen unter enormem Druck.
Es war Bryans und James’ dritter Tag auf fremdem Boden. »Donnerstag, der 13. Januar 1944«, memorierte Bryan im Stillen und fragte sich, wie lange er wohl noch imstande sein würde, den Tagen das korrekte Datum zuzuordnen. Und wie lange der Feind ihm das gestatten würde.
Plötzlich entstand Verwirrung, als der Sicherheitsoffizier hereinkam und seine Untergebenen musterte. Bryan verlagerte den Kopf zur Seite und sah, wie James unmerklich die Hand zur Faust ballte. Aus Angst? Oder Zorn?
Die Schwestern kamen von beiden Seiten gleichzeitig zu Bryan und zu James und zerrten so heftig an den Laken, dass deren Körper an die Bettgestelle krachten.
Als sie Bryan abwuschen, achtete er darauf, den linken Arm eng am Körper zu halten. Das eisige Wasser empfand er diesmal als Linderung. Urin und der nächtliche Stuhlgang hatten eine Kruste auf der Haut gebildet, zwar brannte die Haut nicht mehr, aber sie war geschwollen und juckte. Größeres Unbehagenverursachten ihm jedoch die Fingernägel der Frau am
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