Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
gequält hatte. Peter Stich, der alte, weißbärtige Mann in der Luisenstraße, dem Hermann Müller Invest gehörte. Er war der Postbote. Der Rotäugige aus dem Alphabethaus.
Er war sie alle. In einer Person.
Bryan wurde schwindelig. Jahrzehnte alte Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Von einem lächelnd in seinem Bett liegenden Mann. Von einem Menschen, der in seinem Wahnsinn direkt in den harten Strahl der Dusche sah. Von Augen, die ihn anlächelten, während er seine Tabletten im Rohr des Bettgestells verschwinden ließ. Er erinnerte sich an den vorsichtigen, sanften Mann, der ihm zweimal das Leben gerettet hatte. Er dachte verwirrt an das erste Mal zurück, als der Rotäugige den Sicherheitsoffizier auf den gesplitterten Fensterladen hinwies, und an das zweite Mal, als die Simulanten Bryan aus dem Fenster werfen wollten. Die Macht der Erinnerungen und die Fassungslosigkeit über die Erkenntnisse ließen es Bryan schwarz vor Augen werden.
Alles, alles erwies sich in diesem Augenblick mit jedem Detail als eine einzige, riesige Lüge!
Dann, endlich, klopfte Bridget ihm kräftig auf den Rücken.
Es dauerte mehrere Minuten, bis er wieder bei sich war. Bridget tischte er einige schwammige Erklärungen auf. Ihm wurde bewusst, dass Laureen der einzige Mensch war, dem er noch vertrauen konnte.
Und ausgerechnet Laureen war jetzt auf dem Weg zu Peter Stich. Zusammen mit Petra. Der Petra, die ihn wenige Stunden zuvor direkt in die Arme eines der drei Teufel geschickt hatte.
54
ABGESEHEN VON DEM Haus in der Luisenstraße, wo Stich wohnte, kannte Gerhart in diesem Stadtteil nur noch Kröners Haus. Es war kühl geworden. Die Straßenbeleuchtung wirkte grell und fremd. Aus einer der Kneipen drangen Gelächter und Gejohle, und er wechselte lieber die Straßenseite. So kam er ein klein wenig vom Kurs ab. Stirnrunzelnd zog er die dünne Windjacke enger um sich. Dann straffte er die Schultern und marschierte zielstrebig zu dem Haus, in dem Kröner auf Stich wartete.
Als er bei der Villa ankam, schaute er an der Fassade hinauf. Nur im ersten Stock brannte Licht. Bis auf Kröners Bibliothek waren überall die Vorhänge zugezogen. Es war windig geworden, und der Windfang bot nicht viel Schutz. Lange betrachtete Gerhart seinen Finger, der unentschlossen vor dem Klingelknopf verharrte.
Kröner hatte die Angewohnheit, im Stehen zu telefonieren. Eine schlechte Angewohnheit, fand seine Frau. »Herrje, bleib doch einfach sitzen!«, sagte sie schon mal. »Du tust ja gerade so, als würde der Kaiser dich anrufen!« Doch Kröner war es so am angenehmsten. Und ganz besonders heute, wo Arno von der Leyen sich irgendwo da draußen herumtrieb und jederzeit auftauchen konnte. Kröner war rastlos. Wenn er sich ein wenig zurücklehnte, konnte er so, wie er jetzt stand, wenigstens aus dem Fenster sehen, ohne selbst gesehen zu werden.
Er telefonierte mit Frau Billinger. Sie hatte ihn angerufen und sprach leiser als üblich.
»Sie machen wohl Witze! Petra Wagner hat vor fast zweiStunden im Sanatorium angerufen? Aber ich hatte Ihnen doch gesagt, dass Sie mir sofort Bescheid geben sollten!«
»Nein, Sie sagten lediglich, ich soll Sie anrufen, sobald sie hier auftaucht.«
»Herrgott noch mal. Na gut. Hat sie sonst noch etwas gesagt?«
»Nein, nur, dass sie bald kommen würde. Und sie hat sich nach einem Engländer erkundigt.«
»Nach was für einem Engländer?«
»Weiß ich auch nicht. Aber ich hab ihr gesagt, dass Frau Rehmann heute Vormittag Besuch von einem hatte.«
»Und?«
»Das war’s.«
Kröner kochte vor Wut. Er knallte den Hörer auf die Gabel, schlug mit der Faust auf den Tisch und fegte sämtliche Papiere herunter. Was für ein elender Schlendrian! In seinem Ärger hatte er sich dem Fenster zugewandt und es aufgerissen, um frische Luft hereinzulassen. Er erstarrte und wich hinter den Vorhang zurück. Frau Billingers Schlamperei war mit einem Schlag vergessen. Das Problem hatte sich von selbst gelöst. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand Petra Wagner. Und neben ihr eine ihm unbekannte Frau.
Sie sahen zu seinem Haus.
Kröner entfernte sich vom Fenster. Kaum hatte er sich ein wenig erholt, klingelte es auch schon an der Tür.
Einer der Unterscharführer in den S S-Wehrmachtslagern bei Kirovograd hatte Kröner etwas ganz Besonderes beigebracht. Der junge Unterscharführer hatte zusammen mit einem der anderen Unteroffiziere eines eiskalten Tages aus purer Langeweile einen Delinquenten just in dem Moment
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