Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Instinkten freien Lauf. Er stürzte sich auf seinen Widersacher. Gerhart Peuckert breitete nur ruhig die Arme aus, als würde er seine Liebste zum Tanz auffordern. Kröner schlang die Arme um den ehemals stummen Gerhart, verschränkte die Hände auf dessen Rücken und drückte zu, als wollte er ihn zerquetschen. Es war nicht das erste Mal, dass Kröner diesen Griff anwandte. In der Regel dauerte es keine zwei Minuten, bis der Gegner erschlaffte und in sich zusammensackte.
Als Kröner Gerhart nicht mehr atmen spürte, ließ er ihn los und trat einen Schritt zurück. Er ging davon aus, dass der Irre jetzt umkippen würde.
Doch er hatte sich getäuscht. Gerhart sah Kröner mit leerem Blick an und holte einmal sehr tief und ruhig Luft.
»Gerhart, das hat doch keinen Sinn!«, rief Kröner, trat noch einen Schritt zurück und ließ die rechte Hand zum Brieföffner in die Tasche gleiten.
Gerhart brummte leise. Mechanisch wie ein Roboter griff er nach seiner Gürtelschnalle und zog dann kühl und unbewegt den Gürtel aus den Schlaufen.
»Ich warne dich, Gerhart! Du weißt doch, dass ich es ernst meine!« Kröner wich einen weiteren Schritt zurück. Sein Gegner wirkte verletzlich. »Leg den Gürtel weg!«, sagte Kröner und zog vorsichtig sein Messer hervor.
Kröner wusste ganz genau, worauf es in den letzten Sekunden vor einer Konfrontation wie dieser ankam: langsameBewegungen. Eine einzige ruckartige Bewegung könnte beim Gegner eine irrationale Reaktion auslösen. Kröner tat niemals etwas Unüberlegtes. Gerhart stand ihm unbeirrt gegenüber und betrachtete das Messer, dessen Spitze direkt auf ihn zeigte. Er verzog keine Miene. Auf Kröner wirkte er resigniert – als glaubte er schon, dem Angriff ohnehin nicht mehr entgehen zu können. Eine fatale Fehleinschätzung.
»Leg jetzt den Gürtel weg!«, konnte Kröner gerade noch einmal sagen – dann verzerrte sich Gerharts Gesicht. Seine Mundwinkel zuckten und zwischen den Augenbrauen bildeten sich tiefe Furchen. Das Einzige, was Kröner noch spürte, war der brennende Schmerz in seinem Gesicht, von Wange zu Wange. Das zischende Geräusch des Gürtels wurde übertönt von Kröners Schmerzensschrei, als das Lederband direkt über seine Augen peitschte. Er war außer Gefecht gesetzt.
Gerhart kickte das Messer außer Reichweite, zerrte Kröner dann grob zu Boden und fesselte seine Hände stramm mit dem Gürtel. Die Geräusche, die er dabei machte, nahm Kröner übernatürlich deutlich wahr, sie ließen ihn die Ausweglosigkeit seiner Lage begreifen.
Wenige Minuten später zog Kröner die Beine unter sich. Mühsam richtete er den Oberkörper auf in eine schiefe und unbequeme Haltung. Genau so hatte er Dutzende von malträtierten Opfern auf der nackten Erde sitzen und auf ihr Schicksal warten lassen: den Gnadenschuss.
Und auch er wartete in dieser Haltung auf seine Erlösung.
»Wo ist Lankau?«, hörte er die fremde Stimme über sich.
Er zuckte nur mit den Achseln und kniff die Augen fester zusammen, um der Schmerzen Herr zu werden. Die Strafe dafür ereilte ihn prompt. Gerhart riss ihn mit einer solchen Kraft am Gürtel nach oben, dass er Kröner fast die Schultern auskugelte. Doch der schwieg, den Schmerzen zum Trotz.
Peuckert schleifte ihn gnadenlos die Treppe hinunter und durchs gesamte Erdgeschoss. Die Schmerzen, die Kröner dabeihatte, waren nichts im Vergleich zu dem unbändigen Zorn, der jetzt in ihm hochkochte.
Jahrzehntelang hatte Lankau ihn und Stich vor Gerhart Peuckert gewarnt. »Nun bringt ihn schon um! Warum denn nicht? Wovor habt ihr Angst? Wird schon keiner was merken. Heutzutage verschwinden doch täglich irgendwo irgendwelche Geisteskranke. Auf einmal ist ihr Bett leer. Und wo sind sie? Man sieht sie nie wieder! Ja, und? Vermisst sie doch sowieso keiner. Petra Wagner? Um die kümmern wir uns dann auch noch, wenn es sein muss. Kommt schon!« Lankau hatte Recht gehabt. Petra Wagners kleiner Zettel hätte keinem von ihnen etwas anhaben können. Sie hätten die beiden schon längst aus dem Weg räumen sollen.
Kröner spürte, wie Gerhart ihn über eine Türschwelle zerrte. Dann wurde es kalt. Er war so benommen, dass er nicht wusste, ob der Irre ihn zur Küchentür hinausgeschleppt hatte oder ins Badezimmer. Als er Wasser in eine Badewanne rauschen hörte, wurde ihm klar, dass dies womöglich der Raum war, in dem er sterben würde.
»Bind mich los, Gerhart«, sagte er langsam und ohne einen Anflug von Flehen. »Ich bin immer dein Freund gewesen,
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