Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
gegen die Eichentür gelehnt.
Am liebsten wäre Gerhart jetzt nach Hause gegangen. InsSanatorium. Ja, sein Zuhause war das Sanatorium. Dort bekam er zu essen, dort konnte er schlafen.
Dort fühlte er sich sicher und geborgen.
Er schüttelte den Kopf und fing an zu wimmern. Die Sprache, die er da gerade gehört hatte, wollte ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Konnte er sich überhaupt noch auf irgendjemanden verlassen? Wer wollte ihm denn noch alles Böses?
Als erstes fiel Gerhart der breitgesichtige Unmensch ein, der ihn so viele Jahre misshandelt hatte. Kröner konnte Gerhart nicht mehr vor den Schlägen des Kolosses beschützen. Das würde Lankau auskosten. Gerhart hatte ihn so oft gesehen, jenen ständig lauernden Blick, der nur schlechte Absichten verhieß. Er war ein Teufel, der alle seine Mitmenschen terrorisierte. Alle außer Kröner und Stich. Und die gab es nun nicht mehr.
Sie hatten es nicht besser verdient.
Gerhart wollte gerade die Stäbe in den Wandpaneelen zählen, hielt dann aber inne. Nein. Er bereute nichts.
Er erhob sich und spannte eine Muskelgruppe nach der anderen an. Er musste sich vorbereiten. Auf Lankau und den anderen. Über Petra und die fremde Frau wollte er jetzt nicht nachdenken. Das musste warten.
Erst Lankau, dann Arno von der Leyen. Der eine würde ihn zum anderen führen. Die Sache war ganz einfach. Solange die beiden lebten, würde er nie mehr zur Ruhe kommen. Dabei war das das Einzige, was er sich wünschte. Ruhe. Alles sollte so werden wie früher. Aber wie? Im Sanatorium würde man wieder alles Mögliche mit ihm anstellen. Man würde ihm wehtun und ihn zwingen, sich den Schrecken der Vergangenheit zuzuwenden. Und das würde ihnen auch gelingen.
Das durfte er auf keinen Fall zulassen.
Gerhart richtete sich auf und ließ die Schultern sinken. Kröners Kuckucksuhr im Wohnzimmer schlug zur halben Stunde. Es war Zeit zu gehen.
Lankau war draußen auf seinem Landsitz. Das waren Kröners letzte Worte gewesen. Auf dem kleinen Weingut vor den Toren der Stadt.
Gerhart konnte sich nicht erinnern, jemals eine so lange Strecke zu Fuß gegangen zu sein. Er war nicht müde, fühlte sich aber unerträglich leer. Solange er denken konnte, war er nie auf sich allein gestellt gewesen.
Über ihm waren die Sterne aufgegangen. Die Dunkelheit machte ihm keine Angst. Der Erdboden verströmte einen starken Duft. Bald war es Zeit für die Ernte.
Stich und Kröner hätten dann wieder ihre Lieder angestimmt.
Gerhart lauschte seinen eigenen Schritten. Er war auf dem Weg. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit jedem Schritt wuchs sein Hass auf die zwei Männer. Er zog sich die Kapuze der Windjacke über die Ohren.
Er war todunglücklich und verzweifelt gewesen, als Arno von der Leyen seinerzeit verschwunden war. Aber im Laufe der Jahre waren die Gefühle verblasst. Und jetzt tauchte der Mann einfach so wieder auf – und mit ihm jene unseligen Gefühle. Darum hasste er ihn.
Ohne ihn wäre alles noch wie früher.
Ohne ihn wäre Petra immer noch eine Heilige für ihn.
Das ganze Haus war hell erleuchtet. Als feierte man dort ein Fest.
In der ersten Kurve der Einfahrt stieg Gerhart in den Graben und robbte weiter. Lankau ließ manchmal die Hunde frei herumlaufen, wenn er Gäste hatte. Amüsiert stellte er sich dann am Ende des Abends mit in die Seiten gestemmten Armen auf den Hof und pfiff die winselnden Köter heran, während die eingeschüchterten Gäste zu ihren Wagen eilten.
An solchen Tagen bemühte Lankau sich erst gar nicht, sein Vergnügen zu verbergen.
Absolute Stille umgab den Hof. Selbst das Brausen des Verkehrs auf der Landstraße war verstummt. Gerhart gab einen zischenden Laut von sich, denn bei unvermittelten Geräuschen begann der größte der Hunde, ein regelrechter Bluthund, manchmal wie verrückt zu bellen. Doch es rührte sich nichts. Nach dem zweiten Versuch war Gerhart sich sicher, dass die Hunde an diesem Abend nicht auf dem Weingut herumliefen.
Der Graben führte direkt hinter die Nebengebäude. Gerhart zog sich auf der feuchten Erde über die Grabenkante und sah den dunklen Hof vor sich liegen. Er wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise brannte die Außenlampe immer, wenn jemand im Haus war. Eine ungekannte Nervosität machte sich in ihm breit.
Man durfte Lankaus Signale nicht übersehen.
Aus dem Fenster des Hauswirtschaftsraumes fiel mattes, bleiches Licht über die Kopfsteine. Kein einziges Auto stand im Hof, nicht einmal
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