Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Lankaus.
Vorsichtig erhob er sich und sah sich aufmerksam um. Hinter den kleinen, viereckigen Fenstern des Holzhauses konnte gut jemand stehen und ihn beobachten. Ein schneller Schritt zur Seite, und er hatte die Tür zum Geräteschuppen erreicht.
Gerhart war schon so oft dort gewesen. Im Vergleich zu der klinischen, strukturierten Beschäftigungstherapie, der er im Sanatorium unterworfen war, empfand er diesen Raum mit den Gartengeräten, dem Werkzeug und allem möglichen Kleinkram wie ein Schlaraffenland. An einem der Haken hing ein kurzes Messer an einer Schnur, so unzählige Male geschliffen, dass die Klinge ganz schmal geworden war.
Gerhart nahm es, lehnte sich gegen einen der Stützbalken und prüfte die Klinge mit dem Daumen. Sie war immer noch scharf wie ein Rasiermesser. Er atmete ganz ruhig. Die vielen Konturen um ihn herum nahmen nach und nach dreidimensionale Gestalt an.
Das Messer war nicht seine einzige Waffe. Ganz ruhig undbesonnen würde er zu Lankau hineingehen. Er würde den Koloss dazu bringen, sich überlegen und sicher zu fühlen. Er würde ihn dazu bringen, ihm von Arno von der Leyen zu erzählen. In aller Ruhe.
Erst dann würde er anfangen, ganz normal zu reden. Gerhart war sich sicher, dass er das konnte. Die Wörter lagen ihm schon fast auf der Zunge, wollten heraus. Er hatte das Gefühl, im Hier und Jetzt zu sein. Keine Tabletten schirmten ihn mehr gegen seine eigenen Gedanken ab.
Zum Schluss würde er Lankau so sehr provozieren, dass der sein wahres Ich zeigte. Dann würde es ihm besonders leichtfallen, ihn zu hassen, und dann würde er zuschlagen. Womit, würde sich dann schon zeigen. Den Dolch hatte er nur für den Notfall dabei. Gerhart spannte noch einmal einen Muskel nach dem anderen an und atmete so tief durch, dass der fast verflogene Duft der letztjährigen Traubenernte bis zu seinen Geruchsnerven durchdrang.
Ein Geräusch wie von einer über Kies flitzenden Ratte erreichte ihn aus der Dunkelheit, ein menschliches Stöhnen. Gerhart umklammerte den Dolch. Hatte er etwas übersehen? Erwartete Lankau ihn hier in der Finsternis? Mit dem Blick suchte er jeden Winkel des Raumes ab. Als er das Geräusch noch einmal hörte, wusste er, woher es kam. Die Tür zur Weinpresse stand offen. Das wäre in der Erntezeit völlig undenkbar gewesen.
Gerhart näherte sich der Traubenmühle und sah sofort die helle Gestalt auf der großen Schraube. In ihrem flehenden, ängstlichen Blick glänzte einen Augenblick Hoffnung auf, als sie Gerhart sah.
Es war Petra.
Gerhart erstarrte.
61
LANKAU STIEG MIT einem großen Schritt über Bryan hinweg. Hinter Bryan saß Laureen, schweigend und erschüttert.
Die Reste von Lankaus Stuhl wurden zur Seite gekickt. Bryan wand den Hals, um hinter sich zu sehen, und erblickte zwei straff an die Wand gespannte Tierfelle. Zwischen den Fellen erkannte er eine in der Farbe der Wand gestrichene, kaum sichtbare Türklinke. Es klickte, als Lankau sie herunterdrückte, und sofort strömte frische Luft in den Raum. Bryan wurde schwindelig von der Luftveränderung. Hinter der doppelflügeligen Geheimtür wölbte sich der dunkle Nachthimmel. Lankau betätigte einen Schalter an der Hauswand, und sofort leuchtete ein wahres Lichtermeer das Grundstück bis in die hintersten Ecken aus.
Endlich hatte Bryan die Kenju mit der linken Hand zu fassen bekommen. Er würde sich umdrehen und exakt im richtigen Winkel ansetzen müssen, wenn er Lankau erwischen wollte. Mit einer auf Hüfthöhe festgebundenen Hand aber war es so gut wie unmöglich, einen präzisen Schuss abzufeuern. Vorsichtig drehte er sich zur Terrassentür um. Er wollte abwarten, bis Lankau die Inspektion der Außenanlage beendet hatte und einen Schritt zurücktrat. Laureen hatte praktisch aufgehört zu atmen.
Der Abstand zu Lankau betrug nicht einmal vier Meter, als der den erwarteten Schritt nach hinten tat.
Der Schuss fiel genau in dem Moment, als Lankau sich umdrehen wollte.
Das Projektil schlug dumpf in den Balken gleich neben Lankaus Kopf ein. Verblüfft sah er sich um.
Dann war er im hell erleuchteten Garten verschwunden.
»Hast du ihn getroffen?« Laureens Stimme klang hysterisch. »Er bringt uns um!«, flüsterte sie und brach in Tränen aus.
Bryan war sich nicht sicher. Vielleicht hatte er ihn mit dem zweiten Schuss erwischt. Er wandte sich dem Fenster zur Straße zu. Nichts war zu sehen außer den dunklen Umrissen hoher Bäume.
Bryan ging davon aus, dass Lankau irgendwo da draußen war und abwartete.
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