Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
Die Pistole hatte sie bereits an sich genommen.
»Lass mich das machen, Gerhart! Ich weiß, wo die Flasche steht!« Sie sah ihm fest in die Augen und reichte ihm die Pistole.
Lankau spürte, wie die Schmerzen im Zwerchfell sich verschlimmerten, und atmete immer schwerer. Diesmal platzierten sie ihn am Tischende vor der Wand.
Die gefesselte Frau stand offensichtlich unter Schock. Petra sah weder zu ihr noch zu Arno von der Leyen, der wieder zu Füßen der Engländerin kauerte.
»Die Frau lässt du in Ruhe, Gerhart! Ich werde schon tun, was zu tun ist!«
»Ich hab dir doch gesagt, dass du dich fernhalten sollst, bis alles vorbei ist.« Gerhart Peuckert war kreidebleich.
»Ich weiß! Aber jetzt machen wir es so, wie ich es sage, Gerhart!«
Petra verschwand in der Küche, und Sekunden später war ein Plopp zu hören, wie von einer Flasche, die geöffnet wurde. Lankau blickte zu dem Poster an der Wand. Cordillera de la Paz. Eine Märchenwelt, die zusehends in unerreichbare Ferne rückte. Die Erde wuchs. Die Entfernungen wurden unüberwindbar.
Er nahm den Stift und schrieb.
»… S S-Obersturmbannführer der deutschen Wehrmacht, alias Hans Schmidt.« Als er den Satz fertig geschrieben hatte, sah er auf. »War das alles?«, fragte er trotzig.
Gerhart Peuckert bedachte ihn mit einem ruhigen Blick und diktierte weiter: »Ich bitte meine Familie um Vergebung. Der von den anderen auf mich ausgeübte Druck wurde zu groß. Ich hatte keine andere Wahl.«
Lankau sah ihn an. Er zog die Augenbrauen hoch und legte den Stift wieder weg. Das also sollten seine letzten Worte an die Nachwelt sein. Es war doch ganz gleich, was er jetzt tat – sie würden ihn ohnehin umbringen.
Er schloss die Augen und träumte vom Duft der Kaffeebohnen, der trockenen Erde und der Brise aus den Senken des Urwalds. Kokabäume spendeten ihm Schatten. Er hörte die Geräusche aus den Hütten der Indianer. Und dann verspürte er schon wieder den Druck in der Brust, diesmal etwas höher als vorher. Seine Haut kühlte ab. Sie würden es letztlich nicht wagen, das Ätznatron einzusetzen, dessen war er sich ganz sicher. »Schreib es doch selbst, du Arschloch!«, schrie er, riss die Augen auf und versuchte vergeblich, den Stuhl nach hinten wegzuschieben. Sofort fiel der Schuss. Die Kugel bohrte sich in den Balken über ihm. Gerhart Peuckert hatte nicht eine Sekunde gezögert.
Horst Lankau sah zur Küchentür, wo Petra mit dem Glas in der Hand stand. »Das glaubt doch kein Mensch, dass jemand mit Ätznatron Selbstmord begeht!«
»Das werden wir ja sehen.« Gerhart wandte sich der Frau in der Tür zu. »Komm, Petra.«
Eine Weile rührte sich Lankau nicht. Nur seine Miene veränderte sich und tiefe Furchen durchzogen sein Gesicht. Das Glas wanderte von Petras zu Gerharts Hand, in der es schwer ruhte. Lankau atmete tief durch die Zähne ein.
Dann nahm er den Stift und schrieb einige Zeilen. Leeren Blickes legte er den Stift wieder ab.
Gerhart Peuckert sah ihm über die Schulter und las. Dann nickte er.
»Lass es uns hinter uns bringen!«, zischte Lankau, dem sein Gewicht und sein überlastetes Herz zu schaffen machten. Er rutschte ein wenig zur Seite, als Gerhart ihm die Mündung der Kenju ins Ohr drückte. »Ich habe meinen Teil der Vereinbarung eingehalten!«
»Hast du wirklich geglaubt, dass du davonkommen würdest?« Gerhart sprach mit gedämpfter Stimme. »Weißt du noch, was du früher immer gesagt hast? ›Richtig interessant wird es erst, wenn das Opfer sich vor Angst in die Hosemacht!‹ Das hast du immer gesagt.« Er bohrte ihm die Waffe noch fester ins Ohr. Lankau hielt die Luft an, um den von dem Glas aufsteigenden Geruch nicht einatmen zu müssen. »Wieso sollte ich das trinken?« Lankau spürte, wie ihm schon wieder der Schweiß ausbrach. »Na, mach schon, erschieß mich! Keinen Schluck werde ich davon trinken!«
»Dann gieße ich es über dir aus!«
Hasserfüllt sah Lankau zu Peuckert auf und atmete tief ein. Der üble, durchdringende Geruch blieb aus. Lankau schnupperte noch einmal an dem Glas. Petra hatte ihm die Seite zugewandt und sah weg. Lankau legte den Kopf in den Nacken und fing schallend an zu lachen. Den kalten Stahl in seinem Ohr spürte er nicht mehr. Er brüllte vor Lachen. Die Frau auf dem Stuhl fing erneut an zu schluchzen.
»Großartig! Wirklich toll! Aber das ist nun bei Gott kein Ätznatron, ihr Lieben! Hast es wohl doch nicht übers Herz gebracht, was, Petra?« Triumphierend sah er zu seinem Widersacher
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