Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
auf. »Hattet ihr das etwa auch so abgesprochen, Gerhart? Was ist denn wohl in dem Glas? Badesalz?« Lankau lachte, und Gerhart sah zu Petra, die sich auf die Lippe biss.
»Ha!« Lankau streckte die Zunge heraus und tat, als wolle er sie in die Flüssigkeit tauchen. »Sie hat es nicht übers Herz gebracht, lieber Gerhart! Unsere liebe kleine Petra würde es niemals übers Herz bringen.« Die Pistolenmündung verschwand von seinem Ohr. Unruhig und unentschlossen irrten Gerhart Peuckerts Augen im Zimmer umher, bis er Petras Blick begegnete.
Flehentlich sah sie ihn an. »Tu’s nicht, Gerhart. Mir zuliebe!«
Wie zur Salzsäule erstarrt stand Gerhart Peuckert da und starrte perplex auf das Glas. Dann wurde er wieder ganz ruhig. »Na los, mach schon!«, kommandierte er. »Steck die Zunge da rein!«
Lankau lächelte zu ihm auf und beugte sich selbstsicher über das Glas. Spielerisch und betont langsam näherte er seineZunge der Flüssigkeit im Glas. Als er sie endlich hineinsteckte, zog sie sich reflexartig heftig zusammen. Lankaus Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Was zum Teufel …?«, schrie er. Er lief puterrot an, streckte die Zunge heraus und bewegte sie hin und her, zog sie dann ein und fing an, unaufhörlich abwechselnd zu spucken und zu schlucken. Ein bohrender Schmerz plagte ihn, die Mundhöhle brannte. Die Speichelproduktion geriet völlig außer Kontrolle. Binnen kürzester Zeit fing Lankau an zu stöhnen. Er keuchte immer flacher und immer schneller.
Das Lachen klang, als habe Gerhart Peuckert es viele, viele Jahre unterdrückt. Ganz langsam intensivierte es sich, ein hohles, zynisches Lachen, die zweite Stimme zu Lankaus immer schwerer gehendem, stoßweisem Atem. »Und du dachtest, sie brächte es nicht übers Herz? Du hättest mich fast verunsichert! Hast du Durst, Lankau?«, kreischte er. »Draußen im Schuppen hätten wir einen vorzüglichen Rheinwein! Den wolltest du mir doch anbieten, oder? Oder möchtest du lieber das trinken, was im Glas ist? Riecht vielleicht nicht so wie sonst, aber das ist ja egal, Hauptsache, die Wirkung stimmt, nicht wahr?«
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ENTSETZT SAH PETRA Gerhart an und wich vor ihm zurück. Sobald er das merkte, entfernte er sich einen Schritt von Lankau. Man konnte sehen, wie Gerharts Kiefermuskulatur arbeitete, bis er sich wieder gefangen hatte. Dann reichte er Petra das Glas mit dem Todestrank.
Lankau, dessen Atemnot sich keinen Deut besserte, beobachtete jede seiner Bewegungen. Gerhart heftete den Blick auf die Fensterbank und bewegte sich darauf zu. »Genug jetzt«, sagte er vom Fenster her, wo er Lankaus abgenagten Apfelrest fixierte und so behutsam, als handele es sich dabei um ein winziges, verletzliches Lebewesen, hochhob. »Du hast ja ganz Recht«, fuhr er fort. »Niemand würde glauben, dass sich jemand mit Ätznatron umbringt. Nicht einmal so jemand wie du!« Er sah Lankau direkt in die Augen. »Wollen wir mal zurückdenken, Lankau? Kannst du dich noch an eure nächtlichen Gespräche im Lazarett erinnern? Daran, wie ihr euch erzählt habt, wie man Menschen mit ganz normalen, praktisch überall zu findenden Gegenständen umbringen kann? Stricknadeln, Hämmer, nasse Waschlappen. Weißt du noch, wie ihr gelacht habt, Kröner und du? Wie ihr versucht habt, einander auszustechen, was die Abscheulichkeit eurer Methoden betraf? Eure Phantasie war grenzenlos!« Er zerdrückte den Apfelrest und sah vor sich hin. Petra hörte regungslos zu. Nie hätte sie geglaubt, jemals so viele Wörter aus Gerharts Mund zu hören. So eine schöne Stimme. Und so ein entsetzlicher Moment.
Seine Augen strahlten eine Kälte aus, die sie dort am liebsten nie gesehen hätte.
»Wenn ich es mir recht überlege, haben die schlichtestenMethoden bei mir den größten Eindruck hinterlassen.« Er ließ den Apfelrest vor den Augen seines Opfers tanzen. »Du weißt bestimmt, woran ich denke.« Er lächelte. Lankau wurde immer dunkler im Gesicht. Sein Atem ging pfeifend und qualvoll, sein Blick war immer noch wachsam. »Die Methode hatte sich Kröner ausgedacht, oder? Das weißt du sicher besser als ich. Ich kann mich nur an die lebhafte Beschreibung des Opfers erinnern, dem ein Stück Apfel in den Schlund gesteckt wurde. Es dauert natürlich eine Weile, bis die Sache ausgestanden ist, aber einfacher geht es wohl kaum. Kein Mensch schöpft Verdacht. Kann ja jedem passieren. Kein Mord, kein Selbstmord. Es muss nur echt wirken, stimmt’s?«
Die Frage klang gleichermaßen simpel und
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