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Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus

Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus

Titel: Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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solche Behandlung mit ihm und James anstellen mochte. Ganz langsam verschwanden die Bilder aus seinem Gedächtnis, an die er sich vorher geklammert hatte. Er war wie betäubt, und die Wünsche, seine Lieben wiederzusehen, mit James zu sprechen oder einfach nur ohne Aufsicht draußen durch den Regen zu spazieren, verblassten immer mehr. Seine Erinnerung spielte ihm gewaltige Streiche. Gestern hatte er sich noch glasklar und lebhaft an ein Erlebnis aus der Kindheit erinnert, und heute wusste er kaum, wie er damals ausgesehen hatte.
    Seine Fluchtpläne erstarben, noch ehe er sie zu Ende gedacht hatte.
    Appetit hatte er auch kaum noch. Beim wöchentlichen Duschbad fiel Bryan auf, wie sehr Hüftknochen und Rippen vorstanden. Nicht, dass ihm das Essen nicht geschmeckt hätte. Manchmal, wenn es Kartoffelpuffer gab oder Gulasch oder Suppe oder Kompott, fand er es wirklich essbar. Aber die Lust fehlte. Wenn eine Schockbehandlung überstanden war und der Körper eigentlich nach neuer Energie schrie, musste Bryan sich übergeben, wenn er nur an Haferbrei oder Graubrot mit Margarine zum Frühstück dachte. Er rührte den Teller nicht an, und niemand nötigte ihn. Nur zum Abendessen, bei dem es meist belegte Brote mit den Resten vom Mittagessen und selten einmal Wurst oder Käse gab, konnte er sich zwingen, etwas herunterzubringen. Wenn man ihm genug Zeit zum Essen ließ.
    James lag in seiner Ecke und ließ die Tage vergehen. Er lauschte und träumte und hielt sich immer wieder an Jills Halstuch fest. Er hatte es immer in der Nähe, unter der Matratze, unter der Bettdecke oder unter seinem Nachthemd.
    Während der ersten Wochen kamen sie gar nicht aus dem Bett. Aber nach und nach wurde den Patienten gestattet, selbstständig zu den Toiletten am Ende des Korridors zu gehen. Allerdings brauchten die Krankenhelfer von da an auch länger, bis sie mit den Bettpfannen kamen. Immerhin: Bryan hatte seinen Wortschatz um den Ruf »Schieber, Schieber!« erweitert. Bisweilen dauerte es nun unerträglich lange, bis die emaillierte Bettpfanne unter die Decke geschoben wurde.
    James war als Erster aufgestanden. Eines Morgens schwang er plötzlich die Beine aus dem Bett. Dann ging er von Bett zu Bett, sammelte das Frühstücksgeschirr ein und stellte es auf einen Servierwagen. Bryan hielt die Luft an. Wie perfekt James seine Rolle spielte! Die Kniestrümpfe waren heruntergerutscht, sodass sie um die Knöchel hingen. Er bewegte sich ruckartig und presste dabei die Oberarme so krampfhaft an den Körper, dass alle Bewegungen ungeschickt wirkten. Den Hals hielt er so steif, dass er jedes Mal den ganzen Körper drehen musste, wenn er aus dem Augenwinkel etwas Neues sah.
    Bryan freute sich über James’ Mobilität. So würden sie bald Kontakt aufnehmen können.
    Doch nur wenige Tage später unterband James’ Bettnachbar diese Aktivität. Kaum war James aufgestanden, verließ auch der große pockennarbige Mann das Bett und beobachtete James beim Einsammeln des Geschirrs. Dann trat er zu ihm, legte ihm den Arm um die Schultern und strich ihm ein paarmal übers Haar. Anschließend führte er James energisch zurück zu seinem Bett und drückte behutsam seinen Kopf aufs Kopfkissen. Seither war es der Pockennarbige, der dem Krankenpersonal half. Er lief herum und umsorgte die Patienten, wann immer sich eine Gelegenheit bot.
    James hatte es ihm offenbar besonders angetan. Wenn James nachts ein Kissen aus dem Bett fiel oder beim Essen ein Krümel auf der Bettdecke landete, war der Pockennarbige sogleich zur Stelle und half.
    Ursprünglich hatte der Mann in dem Bett gegenüber von Bryan gelegen. Aber an dem Tag, als James’ erster Bettnachbar abgeholt und in die Leichenhalle gebracht wurde, hatte sich der Pockennarbige einfach so in das frei gewordene Bett gelegt. Zwei der jüngeren Krankenschwestern hatten ihn daraufhin zunächst wieder zu dem ihm zugewiesenen Bett bringen wollen. Aber da hatte er ganz erbärmlich geschrien und mit seinen großen Händen ihre Arme ergriffen. Als schließlich die Oberschwester erschien, schlief er tief und fest in seinem neuen Bett.
    Dort ließen sie ihn nun in Ruhe.
    Nachdem der Versuch, sich eine sinnvolle Aufgabe zu verschaffen, so gründlich missglückt war, stand James nur noch auf, wenn er sich waschen wollte oder zur Toilette musste.
     
    Das erste Mal, dass Bryan sein Bett verließ, war zwei Tage nach einer Elektroschockbehandlung.
    Beim üblichen notdürftigen Waschen im Bett war ihm schwindlig geworden und er

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