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Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus

Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus

Titel: Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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es ganz still. Bryan hatte die Augen geschlossen, als er spürte, wie die großen Hände die Decke behutsam richteten und ihm zart wie Katzenpfoten über die Stirn strichen. Dann kraulte der Pockennarbige vorsichtig, wie bei einem Kind, Bryans Wange. Da schlug Bryan die Augen auf und lächelte ihn an, worauf sein Gegenüber ihm unerwartet ein paar Worte ins Ohr flüsterte. Die Gesichtszüge des Riesen veränderten sich vorübergehend, er wirkte wachsam und kühl. Blitzschnell schien er Bryans Züge zu erfassen, wirkte dann aber gleich wieder so stumpf wie sonst. Danach drehte er sich zu Bryans Nachbar um, tätschelte dessen Wange und sagte: »Gut, guuut!«
    Schließlich setzte sich der Pockennarbige auf einen der Stühle im Mittelgang und starrte zu James hinüber. Die beiden Männer in den Nachbarbetten hoben die Köpfe. Deutlich zeichneten sich ihre Silhouetten im Schein des Mondes vor dem Fenster ab. Auch sie sahen hinüber zu James, der flach ausgestreckt auf seinem Bett lag.
    Bryan ließ den Blick vorsichtig durch den Raum wandern. Soweit er sehen konnte, schliefen alle anderen   – außer den dreien. Stoßweises Flüstern echote zu ihm hinüber, dann legten sich die Schatten wieder auf ihre Betten zurück. Erneutes Flüstern.
    Bryan schauderte es. Hörte er sie tatsächlich flüstern oder war das doch der Wind gewesen?
     
    Am nächsten Morgen saß der Pockennarbige immer noch auf dem Stuhl und schnarchte. Die Nachtschwester kam und gab dem Schnarchenden einen Klaps auf den Hinterkopf.
    Seufzend nahm sie ihre allmorgendliche Arbeit in Angriff.
    Etlichen Patienten ging es inzwischen sichtlich besser. Bryans Nebenmann lag nicht mehr nur im Bett und starrte apathisch an die Decke. Wenn er nun ab und zu stoßweise redete, klopfte das Pflegepersonal ihm immer aufmunternd auf die Schulter. Andere Patienten waren die meiste Zeit auf, saßen am Tisch und blätterten in den bunten Heftchenromanen der Krankenträger. Zwei der älteren Träger sorgten dann und wann für einen kleinen Auflauf, wenn sie eine Runde Schwarzer Peter spielten.
    Wenn die Sonne schien, stellten sich einige der Patienten in der Mittagszeit ans Fenster. Sie sahen den Männern aus anderen Abteilungen zu, Angehörigen der SS mit äußerlichen Verwundungen, die kurz vor ihrer Entlassung standen und unten im Hof lachten und Bockspringen, Völkerball und Fangen spielten.
    Bryan konnte alles beobachten, was auf dem Hof vor sich ging, wenn er sich nur am Kopfende seines Bettes im Schneidersitz hinsetzte und den Kopf reckte. Stundenlang saß er so und starrte in den Himmel über den Wachtürmen am Tor und zu den Hügeln hinüber.
    In dieser Haltung konnte er auch die Enden der Bettpfosten erreichen, vorsichtig den Holzpfropfen oben herausziehen und seine Tabletten in den Metallrohren versenken. Seit er keine Elektroschocks mehr bekam, versuchte er, die Pillen, die ihm in den Mund gelegt wurden, möglichst nicht zu schlucken. Manchmal schluckte er eine, manchmal hatten sie sich schon aufgelöst, bis es ihm möglich war, sie auszuspucken. Aber schon die Reduzierung der Dosis zeigte Wirkung: Bryan wurde immer klarer im Kopf. Gleichzeitig wurde sein Wille zur Flucht drängender.
    Von all den geistesabwesenden Kranken im Raum hatte nur einer gesehen, wie er die Tabletten in die Metallrohre warf, und zwar der, der damals unter der Dusche gestanden und in das eiskalte Wasser gestarrt hatte. Anfangs hatte sich dieser zarte Mann immer wieder selbst verstümmelt, sodass er die meiste Zeit mit Zwangsjacke und Medikamenten ruhiggestellt wurde. Nun, drei Monate später, lag er stumm mit angezogenen Beinen und der Hand unter der Wange auf der Seite und starrte zu den anderen hinüber. Bryan sah seinen Blick in der Sekunde, als er die Tabletten in das Rohr fallen ließ. Der andere strahlte ihn an. Später, als Bryan an den Betten entlang tippelte, blieb er am Bett dieses Mannes stehen. Der wirkte völlig entspannt, und als Bryan sich über ihn beugte, war in seinen Augen kein Zeichen des Wiedererkennens zu entdecken.
     
    Nur sehr langsam gelang es dem Frühling, das Graubraun des Hofs zu verdrängen und die Schatten zu beleben. Bryan hatte genug Zeit, das Panorama haarklein zu erforschen.
    Ihr Haus lag den Felsen am nächsten, die Fenster waren nach Westen ausgerichtet. Die Abendsonne ging direkt zwischen den Wachtürmen unter und tauchte die davor liegenden Gebäude in einen mattroten Schein. Ganz links außen, nach Süden zu, lag die Küche, die hatte er vom

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