Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
musste schrecklich würgen. Dabei kippte die Waschschüssel mit dem Seifenwasser über die Bettkante und die Seife fiel auf den Boden. In dem Augenblick betrat eine der verknöcherten Krankenschwestern den Raum. Statt ihm zu helfen, fluchte sie über das vergossene Waschwasser und zerrte Bryan mit sich bis ganz ans Ende des Korridors, an den Behandlungsräumen vorbei. Bryan konnte sich kaum auf den Beinen halten und übergab sich immer wieder auf den frisch gewischten Fußboden.
In den weiß gefliesten Raum fiel das Licht durch ein großes Fenster, das den Blick auf andere Gebäude und die verschneiten Felsen dahinter freigab. Ruckzuck hatte die Schwester ihn in eine Toilette eingeschlossen. Bryan kniete vor der Kloschüssel und erbrach sich stöhnend. Als die Krämpfe nachließen, setzte er sich auf das kalte Porzellanbecken und sah sich um.
In der Toilette gab es keine Fenster, aber über der Tür biszur Decke war ein Stück ausgespart, durch das Licht hereinfiel. Nachdem er die Wände gründlich untersucht hatte, legte Bryan sich flach auf den Boden und sah sich um, so gut es ging. Die Trennwand stand auf rostigen Metallstangen. Dahinter war noch eine Toilette und dann kam eine gemauerte Wand. An der Wand gegenüber führte eine schmale Tür zu dem Raum, aus dem die Krankenpfleger Bettzeug holten und die Putzfrau Besen und Eimer. Bryan hatte gesehen, wie die Geräte und die Bettwäsche hin und her getragen wurden. Der Raum in der Ecke musste das Bad sein, und die Tür neben dem Fenster führte vermutlich zur Spülküche.
Sie holten ihn erst kurz vor der Visite wieder, tätschelten ihm die Wange und lächelten ihn an, bis er das Lächeln erwiderte.
Seither stand Bryan mehrmals täglich auf. Während der ersten Tage versuchte er, Kontakt zu James aufzunehmen. Wenn James Anstalten machte, zur Toilette zu gehen, folgte er ihm Sekunden später nach. Aber es nützte alles nichts. Wie günstig die Gelegenheit auch sein mochte, sobald James Bryan entdeckte, eilte er sofort in die entgegengesetzte Richtung.
Auch bei anderen Gelegenheiten, in der Regel nach der Kontrolle am Nachmittag, wenn im Krankenzimmer Ruhe herrschte, versuchte Bryan, Blickkontakt aufzunehmen, jedoch ohne Erfolg.
Schließlich stand James offenbar nur noch auf, wenn Bryan schlief.
Bryan fühlte sich verdammt allein.
9
DASS DIE ZEIT nicht planlos ins Land ging, hatten sie dem Kalendermann zu verdanken. So hatte Bryan den Patienten gegenüber von James getauft. Seine kurzen Beine waren es gewesen, die auf der Fahrt hierher über Bryans Trage gebaumelt hatten. Ein heiterer, stummer kleiner Mann, der nie sein Bett verließ und dessen einzige Beschäftigung darin bestand, jeden Tag das aktuelle Datum in das Kopfende seines Betts zu kratzen. Die Krankenschwestern brachte das zur Weißglut. Zur Strafe gaben sie ihm kleinere Essensportionen und verbreiteten bei der Visite offenbar Lügen über ihn. Darum fiel seine Behandlung durch die Ärzte noch drastischer aus als die der anderen.
Mit einer neuen LK W-Ladung Patienten erschien eines Tages die Rettung des Kalendermannes. Die Neuankömmlinge waren in Begleitung von drei jungen Krankenschwestern über den Hof zu einem der hinteren Gebäude getrottet, und diese Schwestern lösten einige der schlimmsten Peinigerinnen des Kalendermanns ab. Nach ein paar Tagen brachte ihm die zierlichste der drei jungen Frauen, kaum so alt wie Bryan und James, einen Bleistift und einen kleinen Block aus grauem, grobem Papier, den sie an einem Metallstift am Kopfende seines Bettes aufhängte. Nun brauchte er das aktuelle Datum nicht mehr mühselig ins Bett zu kratzen.
Wie der Kalendermann es schaffte, nach den Elektroschockbehandlungen immer wieder das richtige Datum aufzuzeichnen, war Bryan ein Rätsel. Offenbar kehrte das Verlorene jedes Mal auf wundersame Weise und mit der größten Genauigkeit in seinen Kopf zurück.
Es war zwar schon April, aber immer noch sehr kühl in ihrem Krankenzimmer. Noch gestattete man den meisten Patienten, sich nachts mit zwei Wolldecken zuzudecken. Viele hatten sich erkältet, sie husteten und schnieften in ihren Betten. Bryan behielt immer seine Socken an und bemühte sich, seinen Körper, so gut es eben ging, gegen die Zugluft zu schützen.
Dem Pockennarbigen schien die Kälte nichts auszumachen. An diesem Abend wanderte er zum dritten Mal zu Bryan hinüber, um dessen Bettdecke festzustecken. Es war sehr windig gewesen, aber der Wind hatte sich nun gelegt und im Krankenzimmer war
Weitere Kostenlose Bücher