Das Alphabethaus - Adler-Olsen, J: Alphabethaus
austreten zu müssen, zwängte er sich in das Depot und hob vorsichtig die beiden obersten Regalbretter herunter.
Im Kabuff gab es ein kleines Fenster, über dem obersten Regalbrett und nicht leicht zu erreichen, aber gerade groß genug. Anders als die schmalen Schlitze unter der Decke im Bad und im Toilettenraum war es nicht vergittert.
Der Fensterhaken ließ sich geräuschlos öffnen.
Bryan entschloss sich rasch. Beim nächsten oder übernächsten Mal wollte er es versuchen. Er würde den Kittel anziehen, aufs Regal steigen, aus dem Fenster klettern und hoffen, dasser den Sprung ins Ungewisse heil überstehen würde. Dann würde er zum Appellplatz schleichen und dort über den Stacheldraht klettern.
Ein äußerst riskanter Plan mit vielen Unbekannten. Riskant wie die meisten der Unterfangen, die James und er jedoch bis hierhin überlebt hatten – mehr schlecht als recht, denn James’ Zustand war kritisch, die Realität gnadenlos. Das Wissen darum, den Rest seines Lebens von Gewissensbissen geplagt zu werden, marterte Bryan schon jetzt.
Aber er hatte keine Wahl.
Beim dritten Toilettenbesuch blieb Bryan schließlich im Depot und zog den Kittel über das Nachthemd. Ein lächerlicher Schutz gegen die Kälte.
Als Bryan sich abstieß und nach dem Fensterrahmen griff, knarrte das Regal im Kabuff bedrohlich. Aus dem Krankenzimmer war nichts zu hören.
Das Fenster war schmaler als gedacht. Er presste den Oberkörper so weit hinaus, bis er fast das Gleichgewicht verlor. Trotz der Dunkelheit sah er den Abgrund erschreckend detailliert unter sich. So ein Sprung wäre selbstmörderisch.
Durch das Fallschirmspringen und simulierte Flugzeugabstürze war Bryan besser als die meisten für einen solchen Sturz gerüstet. Aber sechs Meter freien Fall würde auch er nicht unverletzt überstehen. Beim Sprung zu sterben schreckte ihn weniger. Aber was, wenn die Sicherheitspolizei ihn schwer verletzt fand?
Der dunkle Küchenbau, der sich an die Felswand lehnte, wirkte friedlich. Bekannte Geräusche kündeten von der nächtlichen Runde zweier Wachen. Er hörte die Schritte der Männer, sah die Atemwolken vor ihren Gesichtern.
Unmittelbar nachdem die Wachen ihn passiert hatten, lachte einer der beiden Männer laut los. In derselben Sekunde knarrte es hinter Bryan und das Regalbrett brach aus der Wand.
Leise fluchend drückte er die Ellbogen gegen die Mauern,um sich hoch- und hinauszustemmen, während seine Füße vergeblich nach Halt suchten.
Trotz der Kälte war er schweißgebadet. Die Wachposten waren noch nicht ganz hinter dem Appellplatz verschwunden. Die Hunde sprangen ihnen verspielt um die Beine herum.
Die Wachen würden jeden Augenblick zurück sein.
Der Lärm in dem Depot war unbeschreiblich. Fieberhaft versuchte er, sich das letzte Stück nach vorn zu pressen. Da spürte er einen eisernen Griff um sein Fußgelenk.
21
EINE FOLGE DER Bluttransfusionen mit der falschen Blutgruppe waren Übelkeit und allgemeines Unwohlsein. Außerdem litt James unter Angstzuständen, Wahrnehmungsstörungen und völliger Kraftlosigkeit, was aber auch den vielen Elektroschocks und den Tabletten zugeschrieben werden konnte. Immer öfter war er bewusstlos. Immer seltener konnte er seinen Tagträumereien nachhängen. Die meisten Bücher und Filme waren inzwischen ohnehin aus seinem Gedächtnis getilgt.
James war am Ende. Körper und Seele litten, er fühlte sich allein, erschöpft und tränenleer. Er hatte kaum noch Energie. Ohnmacht und Wahnsinn lagen auf der Lauer. Und dann waren da noch seine Peiniger – und schließlich Bryan.
Da sich die Simulanten jetzt ein neues Opfer auserkoren hatten, kümmerte sich James um nichts mehr und gab die meiste Zeit vor, weit weg zu sein.
Das fiel ihm nicht schwer.
Es waren die Simulanten gewesen, die Bryan aufgehalten hatten. »Lasst ihn am Leben«, hatte Kröner gezischt, als sie auf ihn eindroschen, soviel hatte Bryan verstanden. Anschließend hatte Kröner offenbar den Befehl erteilt, im Lagerraum das Blut von den Wänden zu waschen und das Regal zu reparieren.
Erstaunlich prompt waren sie der Anweisung gefolgt. Der im Krankenzimmer verbliebene siamesische Zwilling war der Einzige, der unruhig wurde. Sein Blick flackerte zwischen der Klingelschnur über seinem Kopf und dem Fußboden hin und her. Kröner fauchte ihn an, dass er zu jammern begann und sich unter seiner Bettdecke verkroch.
Widerstandslos ließ Bryan sich von ihnen ins Krankenzimmer führen. Seine Hände bluteten. Das
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